In der Geschichte der britischen Arbeiterbewegung war es einer der härtesten und längsten Streiks und die Jahre 1984/85 haben sich bis heute in die kollektive Erinnerung der Briten eingegraben. Ein Jahr des Widerstands mit fast bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im radikalen wirtschaftlichen Umbruch, den die damalige Premierministerin Margaret Thatcher und ihre Regierung mit unnachgiebiger Härte durchsetzten. Am 6. März 1984 traten die Bergarbeiter in Yorkshire in den Streik, wenige Tage später in ganz Großbritannien. Ein Kapitel dieses Arbeitskampfes, aus nächster Nähe dokumentiert, hat Michael Kerstgens nun als Bildband veröffentlicht. Wir sprachen mit ihm über seine Erfahrungen.
Welche Erwartungen hatten Sie, als Sie damals nach England aufbrachen?
Ich war mit der Erwartung gereist, möglichst nah an die streikenden Bergleute zu gelangen. Ich wollte in die Mitte der Geschehnisse, die schon acht Monate die Welt in Atem hielten. Im Vorfeld besuchte ich eine Solidaritätsveranstaltung in der stillgelegten Essener Zeche Carl, bis heute ein Kulturzentrum. Dort sprach ich mit dem Vertreter der britischen Bergbaugewerkschaft NUM. Der gab mir eine Telefonnummer und die Adresse der NUM-Zentrale in Barnsley in South Yorkshire. Ich hatte eine grobe Vorstellung, aber kein richtiges Konzept. Ich wollte schauen, wohin es mich treibt, und dabei so offen wie möglich sein.
Sie hatten persönliche, familiäre Kontakte nach Wales?
Ja, aber ich war den walisischen Streikenden als Deutscher eher suspekt. Die Mitarbeiter der Thyssen-Schachtbau GB Ltd. haben mich angemeldet und so konnte ich unter anderem im Streikbüro der NUM in der Zeche Cynheidre Colliery fotografieren. Einige erinnerten sich an meinen Vater, der ab den 1950er-Jahren (bis 1965) als technischer Einkäufer die Zeche Cynheidre mit aufgebaut hatte und mit meiner Mutter zwölf Jahre in Llanelli, South Wales, lebte. Dort wurde ich 1960 geboren. Bis auf die Weihnachtsfeier für die Kinder der Streikenden, die von deutschen Gewerkschaften mitfinanziert wurde, blieb ich aber außen vor. Dennoch war es ein sehr guter Einstieg. Ich verstand die Dimensionen und die Tiefe des Streiks. Ich wollte zu den Menschen, von denen viele bereits hungerten und nur noch durch internationale Spenden und die lokalen WAPC-Suppenküchen ernährt werden konnten. Es bildeten sich die WAPC-Frauenkomitees, die früh zum Herz des Streiks wurden. Er hat die Rolle der Frauen in den Bergbauregionen nachhaltig verändert.
Wurden Sie als Fotograf oder als – wie Sie im Vorwort schreiben – „Kumpel“ gesehen?
Zuerst sollte die Kamera immer eine untergeordnete Rolle spielen. Es ging zunächst darum, einen persönlichen Kontakt herzustellen. Die Menschen, die mich in ihr Leben ließen, hatten verdient, dass sie auch mich kennenlernen. Dies gelang mir relativ schnell, da ich immer sehr offen war. Meine Kamera war immer sichtbar, aber am Anfang habe ich nur gelegentlich fotografiert.
Bei der Arbeit war die „diskrete“ Leica offenbar sehr hilfreich?
Ich bin 1,93 m groß, da kann man sich schwer verstecken. Entscheidend ist was zwischen den Bildern passiert. Die Menschen sollen mitbekommen, was ich mache, aber es darf sie nicht stören. Ich habe nie in Situationen eingegriffen. Ich hatte mir eine Leica M4-P mit einem 28er-Objektiv der Uni Essen Folkwang ausgeliehen. Dort studierte ich im 4. Semester Kommunikationsdesign. Erst 1986 kaufte ich mir eine Leica CL und später dann eine Leica M6 mit einem 28-mm-Objektiv, die ich heute noch habe. An der Leica Fotografie liebe ich, dass sie eben sehr still sein kann. Damit meine ich nicht nur den Auslöser. Meine Arbeit am Thema „Zeitgenössisches jüdisches Leben“ wäre ohne die Diskretion der Leica nicht möglich gewesen.
Wie wichtig war Ihnen damals eine politische Haltung, die sich in den Bildern widerspiegeln sollte?
Ich bin nicht der Ansicht, dass Fotografie neutral sein sollte. Ich war damals 24 Jahre alt und wollte mich für die Schwachen der Gesellschaft einsetzen. Die Wirtschaft, die Industrie und die Gesellschaft wurden mit dem Umbruch des Neoliberalismus konfrontiert. Dieser Wandel wurde in Großbritannien mit einer unglaublichen Brutalität erzwungen. Daraus ergibt sich auch der Titel des Buches. Margret Thatcher nannte die Streikenden den inneren Feind, the enemy within.
Wie kam es zur Idee, nach 40 Jahren Ihre Geschichte zu veröffentlichen?
Das Interesse am Streik ist heute wieder sehr groß, und es ist ein Glücksfall, dass die Fotografien damit „nach Hause“ kommen. Der Brexit hat die Situation und den Blick auf die jüngere Geschichte verändert. Der Brexit wurde in den ehemaligen Kohle- und Stahlregionen entschieden, und heute geht es den Menschen dort schlechter als vorher. Sie spüren, dass sie betrogen wurden. Das sagt mir der ehemalige Bergmann Stewart „Spud“ Marshall, mit dem ich heute noch regelmäßig telefoniere.
Wie sehen Sie heute den „jungen“ Michael Kerstgens und welche Spuren haben die Erfahrungen von damals in Ihrem Werk hinterlassen?
Es ist schon verrückt, dass diese erste Geschichte mein ganzes fotografisches Leben geprägt hat. Und manche Arbeiten entfalten ihre Relevanz erst viele Jahre später. Die wichtigste Erfahrung war, dass du für eine gute Arbeit das Haus verlassen musst. Das habe ich gemacht. Ich war immer sehr, sehr neugierig auf die Welt.
Michael Kerstgens arbeitet heute als künstlerischer und dokumentarischer Fotograf. Er studierte bei Angela Neuke an der Universität-Gesamthochschule Essen. Von 2005 bis 2007 war er Dozent für Fotografie im Fachbereich Design an der Hochschule Anhalt, Dessau. Seit 2007 ist er Professor für Fotografie im Studienschwerpunkt Fotografie des Fachbereichs Gestaltung der Hochschule Darmstadt. Kerstgens erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Veröffentlichungen.
Erfahren Sie mehr über seine Fotografie auf seiner Website www.kerstgens.de und auf seinem Instagram-Kanal www.instagram.com/michael_kerstgens .
Das Buch The Enemy Within. The Miners’ Strike 1984/1985 ist bei Dewi Lewis erschienen. www.dewilewis.com
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