100 Jahre nach der Eröffnung des ersten internationalen Büros in England, hat die Kinderrechtsorganisation Save the Children Deutschland letztes Jahr einen aussergewöhnlichen Bildband herausgegeben. Das Buch «Ich lebe» vereint elf Porträts von Überlebenden der grössten Kriege der vergangenen 100 Jahre, die sie als Kinder überstanden. Im Zentrum des Buches steht eine eindrückliche Bildsprache, umgesetzt von Dominic Nahr, dem Schweizer Leica-Ambassadoren.

«Ich hatte ein klares Bildkonzept für dieses Buch» erklärt Dominic Nahr in seinem Atelier in der Zürcher Innenstadt. «Bei Fotojournalisten ist es eine alte Tradition, immer zwei Kameras mit sich zu tragen. Eine Kamera für Farbaufnahmen zum kommerziellen Gebrauch, eine zweite Kamera für Schwarzweiss-Bilder und das eigene Archiv. Diese Strategie habe ich für dieses Projekt übernommen». Abwechselnd setzte Nahr die Leica M240, die Leica Q sowie die Leica M6 ein.

3 Leicas für die perfekte Bildsprache

«Das gesamte Konzept basierte auf dieser Unterteilung in Farb- sowie Schwarzweiss-Fotografie. Die farbigen Bilder zeigen die Gegenwart. Es ist eine aktuelle, moderne Bildsprache, welche das Jetzt dokumentiert. Die Schwarzweiss-Bilder wirken zeitlos, die Negativstreifen wurden absichtlich original belassen. Es ist kaum zu erkennen, ob es sich um alte oder aktuelle Bilder handelt. Ich wählte diese Option, um die jeweilige Zeit und Geschichte der 11 Porträtierten zu dokumentieren». Dominic Nahr und dem Designer Harri Kuhn von der Berliner Agentur Mischen ist es gelungen, dem Bilderbuch einen poetischen Grundton zu verpassen, welche den unglaublichen Geschichten der Protagonisten gerecht wird.

Es sind die Geschichten von Menschen, welche allesamt als Kinder einen Krieg überlebt haben. Geschichten, die sich einprägen und nicht mehr loslassen. «Eines verbindet all diese Menschen, die ich getroffen habe. Sie versuchten oder versuchen noch heute, irgendwie durch das Leben zu kommen. Es geht vor allem um das reine Überleben».

 

Leica-Aufnahmen aus der ganzen Welt

Für die Aufnahmen ist Dominic Nahr während einem Jahr um die ganze Welt gereist. Afrika, Südamerika, Europa, Asien – er dokumentierte Länder, Orte und Schauplätze, welche vom Lauf der Geschichte gezeichnet sind. Jede Story hat ihre Besonderheiten, ihre Abgründe und ihre ganz eigene Bildsprache. Wir präsentieren drei Stories aus der Sicht von Dominic Nahr.

 

Ruanda

«Es ist Anfang März 2019 als wir in Ruanda ankommen, 25 Jahre nach dem Genozid. In einem Konferenzraum der Kinderrechtsorganisation Save the Children in Kigali sitzen wir vor einer Box voller Polaroidfotos. Es sind die Bilder von Kindern, welche nach dem Völkermord 1994 in Ruanda auf der Suche nach ihren Eltern oder einem neuen Zuhause waren, offiziellen Zahlen zufolge über 300’000. Bei uns sitzt Mama Daphy. Sie war damals vor Ort, um die verzweifelten Kinder für Save the Children zu registrieren. Auf einem der Bilder gucken drei Geschwister in die Kamera, ihre Namen sind darauf notiert. Eines von ihnen würden wir sicherlich finden, war unsere Hoffnung. Also machten wir uns mit Mama Daphy auf die Suche in dem Dorf, in welchem sich die Geschwister damals registriert hatten. Und tatsächlich erkannte sich eine junge Frau auf dem Bild, Vanessa. Sie und ihre Geschwister hatten 1995 die Hoffnung, dank des Polaroidfotos ihre Eltern wieder zu finden. Vergeblich. Vanessa wirkt zerbrechlich, mit einem starken Ausdruck, in welchem sich der Schrecken ihrer Kindheit widerspiegelt. Unter anderem erzählt sie mir von Bananenplantagen, auf welchen sie als Kind häufig war. Für mich ein ideales Sujet, um mit Schwarzweiss-Bildern die Umgebung zu dokumentieren, welche Vanessas Kindheit prägte.

Afghanistan

 «Zu jeder der elf porträtierten Personen im Buch hat jeweils eine Persönlichkeit eine Story geschrieben. Zu den Aufnahmen aus Afghanistan war es Amir Hassa Cheheltan, ein bekannter Schriftsteller aus dem Iran. Und zwar hat er das Bild ausgewählt, auf welchem das typische Verkehrschaos in Kabul zu sehen ist. Die Besonderheit: kurz vor meiner Aufnahme ist ganz in der Nähe die Bombe eines Selbstmordattentäters explodiert. Dies kann man auf dem Bild allerdings nicht erkennen. In seinem Text beschreibt Amir Hassa Cheheltan jede einzelne Szene des Bildes auf eindrückliche Art und Weise. Das Erstaunliche am Text ist, dass er die Story damit abschliesst, dass eine Bombe explodiert. Er hatte nicht gewusst, dass dies tatsächlich geschehen ist. Wir hatten nie kommuniziert. Es ist aber auch kein Zufall, sondern zeigt, wie schwierig die politische Situation in Kabul ist. Dass die Menschen jederzeit damit rechnen müssen. Dies beeinflusste auch meine Arbeit. Ich musste sehr fokussiert bleiben, alles muss sehr rasch gehen. Schliesslich traf ich Amir Hassa Cheheltan in Berlin am Literaturfestival. Während ich auf der Bühne die Bilder und das Buch besprach, war er über Video zugeschaltet. Natürlich musste ich ihn fragen, ob er von der Bombe wusste. Er verneinte. Im Publikum herrschte eine seltsame Stille».

Berlin

«Die Geschichte dieses 107-jährigen Mannes ist deshalb bemerkenswert, weil er beide Weltkriege überlebte und noch heute, in diesem weit fortgeschrittenen Alter einen sehr ausgeglichenen und zufriedenen Eindruck macht. Während dem ersten Weltkrieg war Erich Karl noch ein Kind. Er erinnert sich vor allem daran, dass Hunger herrschte und nicht genug zu essen vorhanden war. Oder dass sein Vater immer weg war. Dieser hat gekämpft, wohl an der Front in Belgien. Dorthin bin ich nach dem Gespräch hingereist. Als ich den Schauplatz fotografierte, herrschte ein kalter Wind, eine sehr ungemütliche Atmosphäre. Ich fühlte auf seltsame Weise die Situation des Krieges und den Geist des Kriegers. Sehr speziell. Als ich aber in Berlin bei Erich Karl alleine mit ihm in seiner Altersheimwohnung sass, fühlte ich mich sehr wohl, wie mit einem Kollegen. Es war ein sehr spezielles und unvergessliches Erlebnis, einem über 100-jährigen Menschen zuzuhören. Beim Abschied zeigte er mir eine kleine Galerie mit seinen Bildern, vor seiner Wohnung im Altersheim».

Wie eindrücklich das Buch «Ich lebe» ist, zeigt die Tatsache, dass die erste Edition Ende 2020 in Rekordtempo ausverkauft war. Nun ist die zweite Auflage in Druck. Das Buch kann beim Kerber Verlag bestellt werden. Wer am Leica-Raffle teilnimmt, kann eine von Dominic Nahr signierte Ausgabe gewinnen.