Die in Istanbul lebende Fotografin Suzan Pektaş agiert als Medium zwischen Realität und Traum. Ihre Fotografie ist eine visuelle Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen, dem Fantastischen und allem, was sich dazwischen bewegt. Ob zeitlose Street Photography in Schwarzweiß, abstraktere Experimente mit Bewegung und Licht oder dokumentarische Erzählungen – Pektaş’ Ergebnisse sind von gleichbleibend hoher Qualität und es ist immer lohnend, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ihre jüngste Serie erzählt eine persönliche Geschichte, die von ihrer Kindheit und der Zeit handelt, die sie an der Küste des Schwarzen Meers verbracht hat. Aufgenommen mit der Leica M-P (Typ 240), zeigen die Fotografien die vielfältigen kulturellen Schichten der Region mit einem Hauch persönlicher Mystik und Spiritualität.

Wie sind Sie mit der Fotografie in Berührung gekommen?

Seit meiner Kindheit habe ich eine enge Beziehung zum Licht. Es machte mir große Freude, mit Schatten zu spielen. Mit der Fotografie begann ich erst in meiner Studienzeit. Ein enger Freund war Amateurfotograf und lieh mir seine Kamera. Einmal reichte er meine Aufnahmen bei einem offenen Wettbewerb ein und einige wurden für die Ausstellung akzeptiert. Damals fing ich an, Fotografie mit anderen Augen zu sehen und sie als kreatives Medium zu erforschen. Ich richtete eine Dunkelkammer im Studentenwohnheim ein und kaufte meine erste Kamera.

Es waren faszinierende Jahre der Experimente und der intensiven Beschäftigung mit diesem Medium. Zu einer Vollzeitbeschäftigung – fast – wurde die Fotografie aber erst vor fünf Jahren. Nachdem ich Jahre in der Wirtschaft verbracht hatte, suchte ich nach einem Ausweg aus den Routinen dieses Lebens und da war sie, meine alte analoge Kamera. Mittlerweile war das Zeitalter der digitalen Fotografie angebrochen und deshalb erwarb ich meine erste Digitalkamera. Seither verbringe ich mit zunehmender Leidenschaft immer mehr Zeit mit Fotografie. Inzwischen ist sie auch keine bloße Flucht vor etwas anderem mehr, sondern Fotografie bietet mir jetzt die Möglichkeit, mich auszudrücken und meine kreative Vision zu teilen.

Wer inspiriert Sie?

Unter den großen Meistern der Fotografie wie Henri Cartier-Bresson, Man Ray, Sally Mann und anderen räume ich Bill Brandt einen besonderen Platz ein. Seine Arbeiten motivierten und inspirierten mich, meine eigene Bildsprache, meinen eigenen Stil zu entwickeln. Ich möchte auch Eugenio Recuenco nennen, dessen Stil schon immer ein Funke für meine Kreativität war. Ebenso hat Andrei Tarkowskis poetische Sprache, die sich auf die Existenz und das Bewusstsein des Einzelnen konzentriert, einen unbestreitbaren Einfluss auf meine Erkundung des Individuums.

Einige andere Dinge, die in meinem Gehirn herumwirbeln, in keiner bestimmten Reihenfolge: meine Tochter, David Bowie, Aretha Franklin, Zugreisen, Maler, August Sander, Diane Arbus … Ich möchte auch einige Autoren wie Charles Bukowski, Jack Kerouac und Raymond Carver erwähnen, die ebenfalls eine große Inspirationsquelle sind.

Und schließlich muss ich die positive Wirkung der neuen Medien erwähnen. Durch Plattformen wie Instagram oder Online-Magazine erreiche ich nicht nur die Öffentlichkeit mit meiner Arbeit, sondern sie bringen mich auch mit anderen Gedanken und Visionen in Kontakt. Das hilft mir, neue Ideen zu entwickeln.

Ihr Stil lässt sich irgendwo zwischen den scheinbar widersprüchlichen Genres Kunst und Dokumentarfotografie einordnen. Wie beschreiben Sie selbst Ihren verführerischen Stil? Glauben Sie, dass Kunst und Dokumentation nebeneinander existieren können?

Ihre Beobachtung ist völlig richtig. Dort, an der Schnittstelle von Kunst und Dokumentation, positioniere ich mich. Dokumentation wird traditionell als Gegenpol von Kunst verstanden, als ihr Alter Ego. In den letzten zwei Jahrzehnten gibt es aber den wachsenden Trend, traditionelle dokumentarische Fotografie neu zu erfinden und zu beleben. Tatsächlich ist die zeitgenössische dokumentarische Praxis nicht mehr eine nachahmende, naturalistische Wiedergabe der Realität, sondern ein vollständig geplanter Prozess. Dokumentation ist ein Katalysator für eine andere Realität, anstatt bloß ihre Darstellung zu sein.

Das entscheidende Charakteristikum ist die Treue zur Wahrheit, nicht die Wahrheit selbst. Tatsächlich lässt sich Dokumentation weder mit einem Genre noch mit einem Medium verbinden. Und wie in jedem kreativen Prozess gibt es den subjektiven Faktor, das Siegel des Künstlers. Es gibt ein Gleichgewicht, das die Fotografie als einziges Medium bietet und mir erlaubt, verschiedene Stilelemente von der reinen Abstraktion bis zur dokumentarischen Realität in einem einzigen Bild zu verschmelzen.

Ich versuche, meine Identität, meinen subjektiven Blick in meine Fotografie zu integrieren, direkt oder als Metapher. Ich möchte die Sichtweise der Menschen auf andere Menschen und die Welt im Allgemeinen hinterfragen, erstarrtes Denken stören und dynamisches bereichern. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich durch meine Arbeit etwas in den Menschen anfachen könnte, denn das ist es, was letztlich den Raum für Diskussionen eröffnet. Das ist es, was wir so sehr brauchen.

Um auf Ihre ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ja, Kunst und Dokumentation können zusammen existieren, wie im wirklichen Leben auch.

Wann haben Sie zum ersten Mal das Schwarze Meer besucht und woher rührt Ihre Verbundenheit mit dieser Region?

Ich wurde in einer bulgarischen Stadt nahe der Schwarzmeerküste geboren. Die Sommer, in denen meine ganze Familie einen Monat in einer kleinen Hütte am Strand verbrachte, gehören zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Die Idee, diese Serie zu fotografieren, entstand, als ich nach 25 Jahren mit meiner Familie das Land meiner Geburt besuchte. Aus den ersten Plänen entwickelte sich schnell eine Serie über die Schwarzmeerküste und ihre Bewohner.

Welches Konzept steht dahinter? Was versuchen Sie, mit dieser Serie zu sagen?

Die Serie entstand wegen meiner persönlichen Beziehung zu dieser Region. Mein Großvater war Schauspieler, aber er hatte eine leichte Behinderung und musste deshalb in den Ruhestand gehen. In unserer Sommerhütte erzählte er uns faszinierende Geschichten über kopflose Pferde, hübsche Mädchen, das Meer und vieles mehr. Ich glaube, dass diese Auftritte ein Lebenselixier für ihn waren. Die intime Beziehung zum Schwarzen Meer muss so tief in meine Seele eingegraben sein, dass ich auch Jahrzehnte nach meiner Übersiedlung in die Türkei immer wieder an diese Küste zurückkehre.

Im Vergleich zu seiner größeren Schwester, dem Mittelmeer, wurde das Schwarze Meer beinahe vernachlässigt. Zumeist war ich an der Südküste unterwegs, von Bulgarien Richtung Georgien. Die Bilder in der Serie sind eine Fusion meiner Erinnerungen mit zeitgenössischen Szenen. Letztere dienen oft als Spiegel meiner verblassten Träume und Fantasien in diesen vergessenen Ländern. Ich fotografierte alltägliche Aktivitäten der Menschen, einfache, zerbrechliche Ereignisse entlang der Küste, tauchte in die verschiedenen kulturellen Schichten der Region ein, versetzt mit einer Prise persönlicher Mystik und Spiritualität.

Sie leben in Istanbul, einer unfassbar großen und chaotischen Stadt. Inwieweit ist Ihre Serie über das Schwarze Meer eine Flucht aus der Wirklichkeit in ein Paralleluniversum oder eine Traumwelt?

Ja, ich lebe in Istanbul, eine Megacity, in der Millionen entfremdeter Menschen zu Hause sind. Glücklicherweise liegt Istanbul in der Nähe der Schwarzmeerküste. Aber, wie ich bereits erwähnt habe, pflege ich eine intime Beziehung zum Schwarzen Meer, jenseits jeglicher Form von Flucht. In dieser Serie finden Sie meine Erinnerungen, reproduziert mit dokumentarischem Blick. Aber es ist auch wahr, dass die Schwarzmeerküste mir ein Fenster zum Atmen bietet, wenn ich das Gefühl habe, in der Stadt zu ertrinken.

Einige Szenen und Motive der Serie sind eindeutig inszeniert. Wie sehr sind diese Bilder voyeuristische Schnappschüsse in eine andere Welt und wie sehr sind es eigene künstlerische Konstruktionen? Wer sind die Menschen, die wir sehen?

Ich nenne eine inszenierte Aufnahme eine geplante Spontaneität. Es mag widersprüchlich klingen, aber ich informiere meine Protagonisten über die generelle Stimmung und lasse sie von ihnen interpretieren. Ich finde es toll, kleine Geschichten in ihren Interpretationen zu finden, ohne mich mit vorgefassten Ideen beschäftigen zu müssen. Es ist ganz klar eine gemeinschaftliche Arbeit, die sehr stark von der Stimmung und Einstellung meines Gegenübers abhängt. Deshalb arbeite ich lieber mit engen Freunden zusammen, weil so tiefere Intimität zwischen mir und dem Protagonisten möglich ist. Abgesehen davon sind sie für mich beim Fotografieren aber anonyme Wesen. Zumeist sind es Frauen in ihren 30ern. Das ist eine besondere Zeit, in der man eine bestimmte Reife erreicht. Ihre Körpersprache zieht mich in eine surreale Welt und nährt meine Fantasien und Träume. Ich bin fasziniert von verschiedenen Ebenen einer Erzählung, einer Mischung aus Traum und Realität.

Auf etlichen Bildern sehen wir Menschen, die ihren Kopf wenden. Und nicht nur sie, sogar das Pferd macht es. Oder sie schließen die Augen, als ob sie versuchen, ihr Objektiv oder die Augen einer anderen Person zu meiden. War Ihnen das beim Fotografieren bewusst? Wie wirkt sich das auf die Serie insgesamt aus?

Meistens ist es meine Neugierde auf Menschen und ihre unsichtbaren Geschichten, die mich antreibt. Ich suche nach den Charakteren, die in ihrer eigenen inneren Welt verloren gehen. Ich möchte auf die emotionalen Schichten meines Protagonisten zugreifen, sie aufdecken und erkunden, wie tief sie uns prägen. Ich möchte die Vorstellungen von Erinnerung und Melancholie hervorrufen, das anhaltende Gefühl von Sehnsucht und Einsamkeit, die Hoffnung und Freude am Leben, kurz, den unsichtbaren Zusammenhalt, der uns verbindet. Es ist das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen. Ich erzähle Geschichten, das ist für meine Fotografie unerlässlich. Ich glaube, ein guter Geschichtenerzähler verlässt sich sehr stark auf seinen Instinkt, der entscheidet, wann man den Verschluss auslöst. Es ist völlig unmöglich zu erklären. Es sind diese instinktiv aufgenommenen Momente, in denen sich ein Kopf gedreht oder ein Augenpaar geschlossen haben.

Eine der persönlichsten Fotografien der Serie ist die, auf der meine Tochter im Garten schläft, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Ich hatte Angst, sie beim Auslösen aufzuwecken. Aber glücklicherweise sind Leica Kameras sehr leise.

Sie haben diese Serie mit der Leica M-P (Typ 240) aufgenommen. Wie hat sich das Arbeiten mit dieser Kamera angefühlt?

Die Verwendung des Messsuchers hat meine Arbeit verändert, denn man muss wirklich schnell sein. Er toleriert keine Fehler, wenn man den Moment verpasst, ist er weg. Ich musste viel üben und mich erziehen. Das ist das Gute an der M-P (Typ 240), man muss die Dinge richtig machen, genauso wie sie sein sollen. Nach vielen Jahren mit einer Nikon D800 hat mich Leica diszipliniert und umgeschult. Ich glaube, das hat auch meine Arbeit verbessert. Und es ist eine schöne Kamera, man ist stolz, sie zu benutzen.

Was schätzen Sie am meisten am Fotografieren mit Leica Kameras?

Die Nikon D800 ist eine gute, aber ziemlich einschüchternde Kamera. Sie hat einen sperrigen Body und ein Objektiv, das die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht. Die Leica, mit ihrer geringen Größe und ihrem vertrauten Aussehen, hat die Beziehung zu den Menschen verändert. Die Kamera schüchtert sie nicht ein, also schauen sie mich an, nicht die Kamera, was unsere Kommunikation erleichtert. Sobald man damit vertraut ist, bietet der Messsucher eine vollständige Kontrolle über das Bild.

Woran arbeiten Sie derzeit? Worauf können wir uns demnächst freuen?

Seit 2015 arbeite ich an langfristigen Projekten, vor allem in den Bereichen städtische Transformation und Gentrifizierung, Einwanderung und Frauen. In einem aktuellen Projekt geht es um die Menschen in Ostanatolien. Dort gibt es nicht nur archaische Siedlungen und Dörfern in einer poetischen Landschaft mit monumentalen Bergen, sondern auch ausdauernde Menschen mit starkem Charakter, denen das Leben und die Freude daran viel bedeutet. Aber sie sind erschöpft von der schweren Bürde der lokalen Moralvorstellungen. Ein weiteres Projekt, an dem ich arbeite, beschäftigt sich mit der afrikanischen Community in Istanbul. Ich begleite meine Protagonisten in verschiedenen Umgebungen, von der Messe am Sonntag bis zu Bootspartys. In dieser Serie dokumentiere ich die afrikanische Stadtkultur in Istanbul, die sich nicht versteckt, aber unbeachtet bleibt.

In den letzten zwei Jahren bin ich viel gereist, aber in diesem Jahr will ich öfter zu Hause bleiben und mit dem Material zu arbeiten, das ich gesammelt habe. Ich möchte mich auf die Vorbereitung eines Buches konzentrieren, das ein einzigartiges Erlebnis sein soll, und an Ausstellungen teilnehmen. Der Aufbau von Kooperationen mit anderen Künstlern und die Planung einiger Kooperationsprojekte ist mir ebenfalls wichtig. Ich möchte 2019 mehr erreichen.

Welchen Ratschlag geben Sie Ihren Berufskollegen?

Bedenken Sie, dass Fotografie Forschung ist, die niemals endet. Sie müssen forschen, um ihre eigene Stimme und die richtigen Werkzeuge und Techniken zu finden, die es Ihnen ermöglichen, unverwechselbare, ansprechende Werke zu produzieren. Es gibt mindestens so viele Sichtweisen auf die Welt wie Menschen, und jeder hat eine einzigartige Stimme. Ihnen stehen auch mehr Werkzeuge denn je zur Verfügung. Unsere Zeit ist in jeder Hinsicht absolut faszinierend, nutzen Sie sie. Seien Sie beharrlich, strengen Sie sich an und bleiben Sie leidenschaftlich.

 

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