Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen läuft Nathanaël Fournier mit seiner M6 durch die Straßen seiner Heimatstadt Lille, durch Toulouse und Paris. Das Ergebnis seiner Spaziergänge ist Everyday Life’s Value, eine ebenso einfühlsame wie amüsante Serie. Er sprach mit uns über das Phänomen der Gleichzeitigkeit und die kleinen Wunder des Alltags.

Aus welchem Grund heißt Ihre Serie Everyday Life’s Value?

Ich hatte die Idee für den Titel durch das Zitat, das Sie in der Aufnahme Camus, Toulouse sehen: „Donnons de la valeur au quotidien“. Die Übersetzung lautet „Lasst uns dem Alltäglichen einen Wert verleihen“. Das Projekt kam abrupt zum Stillstand, als ich im Zug nach Perpignan einschlief. Ich war auf dem Weg zum Festival Off, wo einige meiner Bilder ausgestellt werden sollten. Als ich aufwachte, war ich bestohlen worden: Geld, Ausweis, Rucksack, meine M6 und ein paar kürzlich belichtete Filme waren weg! Ich hatte einen Ordner mit älteren Filmen bei einem Freund in Südfrankreich gelagert, aber nachdem ich ausgeraubt worden war, verkroch ich mich erst einmal auf Korsika, wo ich in einer Hütte lebte und monatelang kein einziges Foto aufnahm.

Warum fotografieren Sie in Schwarz-Weiß?

Im November 2016 besuchte ich einen Meisterkurs mit Harry Gruyaert während des Street Photo Festivals in Brüssel. Ich muss zugeben, dass mir Farbe ziemlich egal ist. Wenn in meiner Kamera ein Farbfilm eingelegt ist, fotografiere ich, als wäre er schwarz-weiß. Manchmal funktioniert es, manchmal nicht.

Was interessiert Sie an Street Photography?

Vor ein paar Jahren arbeitete ich als Zeitungsjunge, was lange Gänge bedeutete und ich nahm immer meine Kamera mit. An einem dieser Tage machte ich ein paar Dutzend Fotos, bevor ich feststellte, dass kein Film eingelegt war. Ich musste lachen, als ich erkannte, dass mein Interesse an der Fotografie sehr egoistisch war: Ich gehe einfach gerne spazieren und habe ein wenig Spaß beim Fotografieren. Erst wenn ich Bilder bearbeite und auswähle, denke ich über den Zweck und die Verwendung meiner Arbeit nach: Enthüllen die Bilder die Welt, in der ich lebe? Sind sie für die Menschen, die ich fotografiert habe, und auch für den Betrachter interessant? Und vor allem, sind die Bilder gut?

Viele Ihrer Bilder weisen einen feinen Sinn für Humor auf und ein gutes Gefühl für den richtigen Moment – wie beschreiben Sie selbst Ihre Vorgehensweise?

Wenn ich fotografiere, versuche ich, nicht zu viel zu denken. Ich bin ein guter Fotograf, wenn ich Dinge geschehen lasse. Manchmal entdecke ich ein gutes Motiv, aber fotografiere es nicht, weil ich darüber nachdenke, was für ein schönes Bild es wäre. Manchmal fange ich einen guten Moment ein, weil ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin. Das war beispielsweise bei dem Camus-Foto der Fall. Bei meiner Arbeit geht es vor allem darum, herumzulaufen und sich dabei zu verlaufen.

Haben Sie ein fotografisches Motto oder fotografische Vorbilder?

Es gibt ein Motto, das ich von einem Freund gelernt habe, dem ich als Graffiti-Künstler gefolgt bin: „Mach es einfach und effizient“. Jetzt versuche ich, dieses Motto auf die Fotografie zu übertragen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Dinge, die einfach aussehen, leicht zu realisieren wären! Man braucht sich nur die Arbeiten von Fotografen anzusehen, die ich sehr schätze wie Edouard Boubat, Elliot Erwitt, Willy Ronis, Saul Leiter und Marc Riboud. Ich habe auch die unglaublichen Street-Aufnahmen gesehen, die Graciela Iturbide kürzlich erstmals aufgenommen hat.

Mit welcher Ausrüstung haben Sie bei Everyday Life’s Value gearbeitet?

Mit meiner M6 und dem Summicron-M 1:2/50. Fotografiert habe ich mit den Ilford-Filmen HP5 400 und FP4 125. Die Kamera habe ich im Beaumarchais Leica Store in Paris erworben: Sie funktioniert perfekt!

1982 in Nordfrankreich geboren, begann Nathanaël Fournier 2003 mit der Fotografie, als er sich von seiner Freundin eine Kompaktkamera auslieh, um die Graffiti-Kunst in seiner Heimatstadt Lille zu dokumentieren. Später besuchte er für einige Monate die Kunstschule St. Lukas in Tournai, Belgien. Von seinem Ersparten kaufte er sich 2008 seine erste Leica: eine M6 mit Summicron-M 1:2/50. Seither fotografiert er mit jedem Film, den er sich leisten (oder stehlen) kann: KodakGold, FujiSuperia und alle verfügbaren Schwarzweißfilme. Fournier lebt in Creuse, Frankreich.

Wenn Sie weitere Aufnahmen von Nathanaël Fournier sehen möchten, besuchen Sie seine Website.