Aktuell widmet die Präsentation im Ernst Leitz Museum dem renommierten Fotografen und Magnum-Mitglied Josef Koudelka eine Ausstellung mit Fotografien aus zwei seiner bedeutendsten Werkserien. Die Auswahl von 68 Arbeiten aus den Serien Exiles und Panoramas für die Räume des Museums hat der Fotograf selbst getroffen und gibt damit einen fokussierten Einblick in sein Lebenswerk.

Koudelka (*1938) zählt zu den weltweit prägendsten und profiliertesten Fotografen der letzten Jahrzehnte. Kaum ein Ereignis des 20. Jahrhunderts ist im kollektiven Gedächtnis derart eng an die Aufnahmen eines einzigen Fotografen gebunden. Während der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 durch die Truppen des Warschauer Pakts entstanden seine bis heute legendären Aufnahmen, damals noch mit einer Dresdner Exakta-Kamera fotografiert. Seine Aufnahme vom menschenleeren Wenzelsplatz, in dessen Bildvordergrund Koudelkas linker Arm mit Uhr am Handgelenk hineinragt, entstand am 22. August 1968 und zählt heute zu seinen ikonischen Motiven.

Warsaw Pact troops invade Prague, Czechoslovakia, August 1968 © Josef Koudelka – Magnum Photos

In direkten, unmittelbaren Bildern dokumentierte er die Straßenkämpfe zwischen verzweifelten Bürgern und den Invasoren. Seine Negative wurden 1969 außer Landes geschmuggelt und unter der Autorenschaft „P.P.“ verbreitete die Bildagentur Magnum Photos die Bilder zum Jahrestag der Invasion. Weltweit gedruckt und ausgezeichnet blieb das Sigel „Prague Photographer“ zunächst ungelöst, bevor Koudelka zur eigenen Sicherheit 1970 zunächst nach London und ab 1980 nach Paris zog. Die Aufnahmen, die in dieser Zeit entstanden, reflektierten insbesondere seine paradoxen Gefühle zwischen Entfremdung und Engagement. „Ich befand mich einfach außerhalb der Tschechoslowakei und ich beschloss zu tun, was ich bisher nicht tun konnte, als ich dort lebte: die Welt zu sehen.“ Einen Abschluss fand diese Phase in der Publikation Exiles, die allerdings erst 1988 erscheinen sollte. Das Buch wurde zur Bestandsaufnahme und Vergangenheitsbewältigung zugleich. Im begleitenden Interview mit dem Kurator und Verleger Robert Delpire gab Koudelka so offen wie selten Auskunft über seine Erfahrungen und Gefühle: „Der Status eines Exilanten bedeutet, dass man sein Leben von Grund auf neu aufbauen muss. Diese Möglichkeit wird dir gegeben. Als ich die Tschechoslowakei verließ, war ich dabei, die Welt um mich herum zu entdecken.“

Mit der Entscheidung, staatenlos und über längere Zeiträume nicht sesshaft zu sein, in bewusster Distanz zur Gesellschaft zu leben, nahm er sich die Freiheit, unabhängig zu arbeiten. „Ohne Reisefreiheit hätte ich viele dieser Fotos nicht machen können. Als ich in der Tschechoslowakei lebte, bedeutete Freiheit für mich jedoch vor allem, dass ich tun konnte, was ich wollte, und dass ich innerhalb unserer begrenzten Freiheit Raum für meine Arbeit finden konnte. Ich brauchte nicht weit weg zu gehen, um zu fotografieren. Ich wusste, dass ich, wenn ich etwas wert war, es in meinem Land beweisen musste. Als ich ging, schien es mir, dass es außerhalb der Tschechoslowakei noch schwieriger war, diese Art von Freiheit zu bewahren, denn obwohl es dort keine politische Freiheit gab, zwang uns das Fehlen einer weiteren Freiheit dort – die Freiheit, Geld zu verdienen – dazu, Dinge zu tun, an die wir glaubten, die uns interessierten und die wir gerne taten.“

Mit größter Konsequenz und äußerster materieller Reduktion reiste Koudelka fortan quer durch Europa. Der Fotograf arbeitete insbesondere seit seinem Eintritt in die renommierte Agentur Magnum Photos mit Leica Kameras. Umso wichtiger wurde ihm die Magnum-Mitgliedschaft, gab ihm der Kontakt zu seinen Fotografenkollegen doch vielfach die nötige soziale und existenzielle Verbindung zur Welt. Häufig war dieses Netzwerk allein schon deshalb hilfreich, um eine nächste Übernachtungsmöglichkeit zu finden: „Nachdem ich gegangen war, versuchte ich zu vermeiden, etwas zu besitzen. 16 Jahre lang habe ich keine Miete bezahlt. Mir wurde klar, dass ich mit dem Geld, das ich für eine Wohnung ausgegeben hätte, leben und reisen könnte. Ich wusste, dass ich nicht viel brauchte, um zu funktionieren – etwas Essen und einen guten Schlaf. Ich lernte, überall und unter allen Umständen zu schlafen. Ich hatte eine Regel: Mach dir keine Sorgen, wo du schlafen wirst, bisher hast du fast jede Nacht geschlafen, und heute Nacht wirst du wieder schlafen. Und wenn du im Freien schläfst, hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du hast Angst, dass dir etwas passiert, und du kannst dann nicht gut schlafen oder du akzeptierst die Tatsache, dass etwas passieren könnte, und schläfst gut.“

Die Ausstellung im Ernst Leitz Museum kontrastiert die Serie Exiles mit einer persönlichen Auswahl seiner Panoramen, die ab Mitte der 1980er-Jahre entstanden sind. Waren Koudelkas bisherige Aufnahmen ganz der Kleinbildfotografie verpflichtet, entdeckte er mit einer Panorama-Kamera die Welt noch einmal neu: In raumgreifenden Landschaften und Küstenstreifen in Europa und im Nahen Osten ging er in Gebieten auf Spurensuche, die durch Industrie, Konflikte oder einfach Zeit eine zum Teil verheerende Veränderung durchlaufen hatten. Während der Erarbeitung dieser Serie entdeckte Koudelka zunehmend auch die Digitalfotografie, nicht zuletzt durch die Hilfe von Leica, indem ihm eine digitale Panorama-Kamera auf Grundlage einer Leica S2 zur Verfügung gestellt wurde. In einem vor fünf Jahren geführten Interview bekannte er: „Ich war sehr glücklich, denn nun konnte ich meine Kamera in die Hand nehmen, meine Freunde, die ich überall auf der Welt habe, anrufen und einfach sagen: Kann ich bei dir zu Hause schlafen? Ich brauche nicht mehr 35 Kilogramm mit mir herum zu tragen. Die Digitalkamera macht es also einfacher und auch interessanter. Ich kann sagen: „Vive la Revolution!“

Amman, Jordan, 2012 © Josef Koudelka – Magnum Photos, Courtesy of Swiss Private collection

Josef Koudelka wurde am 10. Januar 1938 in Boskovice in der CSSR geboren. Von 1956 bis 1961 Studium an der Technischen Universität in Prag, danach bis 1967 Berufstätigkeit als Flugzeug-Ingenieur in Prag und Bratislava. Parallel entstehen Aufnahmen für ein Theatermagazin, er ist als Reportage-Fotograf tätig und beginnt sich für das Leben der Roma zu interessieren. Im August 1968 fotografiert er den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag, die den sogenannten Prager Frühling, das Demokratisierungsprogramm der tschechoslowakischen KP unter Alexander Dubček, niederschlugen. 1970 wird Koudelka in England Asyl gewährt, das Land bleibt Ausgangsstation seiner vielen Reisen. Seit 1974 ist er festes Mitglied der Agentur Magnum Photos. 1987 erhält er die französische Staatsbürgerschaft. Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. Weitere Informationen auf der Webseite von Magnum Photos.

Die LFI 1/2018 widmete Josef Koudelka ein Portfolio.

Die Ausstellung im Ernst Leitz Museum in Wetzlar läuft bis zum 23. August 2020.

Leica M

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