Die Stadt am Bosporus ist nicht nur erfüllt von Lärm und Staub. Dort leben Millionen Menschen und mit ihnen Tausende von Geschichten. Katya Alagich hat sie entdeckt – ihre Aufnahmen zeigen eine kunstvolle Melange aus Träumen und der Realität.

Istanbul, die Stadt am Bosporus, Verknüpfungspunkt Europas und Asiens. Was hat Sie bewogen, die Stadt ausgerechnet im Winter fotografisch festzuhalten?
Im Januar war ich das zweite Mal in Istanbul. Lange hatte ich davon geträumt, die Stadt im Winter und nicht im Sommer zu erleben, nicht in der Touristensaison, sondern wenn sie sozusagen ein bisschen „nackt“ ist. Istanbul erinnert mich an einen türkischen Kelim mit komplexen Ornamenten. Im Sommer ist die Stadt reich an warmen Blumen, aber die Touristenmassen wirbeln viel Staub auf. Im Winter ist Istanbul immer noch der gleiche Teppich, ein wenig blasser zwar, aber frischer. Ich wollte auf meiner Reise tiefer in die Atmosphäre Istanbuls eintauchen, die Stimmung der Stadt wiedergeben, ihre Schwingungen spüren, gerade dann, wenn sie am verletzlichsten ist. Die Momente, die ich eingefangen habe, sind eher meditativ und melancholisch.

Auslöser für Ihre fotografische Reise war der Roman Istanbul. Die Stadt der Erinnerungen des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk.
Ja, Pamuks Roman hat mich dazu gebracht, diese Reise zu unternehmen. Er schreibt über „hüzün“, ein Wort, das mit Tristesse übersetzt werden könnte, für ihn aber noch viel mehr bedeutet: ein Gemeinschaftsgefühl, eine Atmosphäre und eine Kultur, die Millionen Menschen teilen. Ich würde sagen, dass der Einfluss des Wortes „hüzün“, die Traurigkeit, die Pamuk impliziert, meiner visuellen Interpretation der Motive eine gewisse Schattierung mitgegeben hat. Mein „hüzün“ ist der Versuch, etwas zu fühlen und durch Beobachtung zu berühren, ohne in den persönlichen Raum der Bewohner einzudringen. Es geht um eine „beschwingte“ Form von Traurigkeit.

Ihre Aufnahmen sind in Farbe fotografiert und sie wirken trotz der winterlichen Tage und des Regens gar nicht trostlos, sondern sehr lebendig …
Ich nehme die meisten Fotografien in Farbe auf, ich habe eine besondere Beziehung zu Farben, da ich seit meiner Kindheit viel male. Wegen der Vielfalt der Schattierungen ziehe ich es vor, den Stimmungswechsel zu reflektieren, die Aufmerksamkeit des Betrachters darauf zu lenken, wie sich Zeit und Licht verändern. Für meine Reise im Januar hatte ich mich auf dunkle Wintertage, Schneeflocken und eine blumenlose Saison eingestellt, aber das Wetter hatte meine Pläne durchkreuzt. Nun zeigt die Serie deutlich, wie sich die Stimmung allmählich veränderte: von sonnigen, lichtdurchfluteten Aufnahmen über sattes Rot und Kontrast bis hin zu einer weichen Abendstimmung.

Wie nutzen Sie Licht als Stilmittel?
Licht ist für mich eines der wichtigsten und inspirierendsten Werkzeuge. Ich arbeite ausschließlich mit natürlichem Licht, ich möchte verstehen, wie es sich auf verschiedenen Oberflächen verhält, wie es die Dinge verwandelt. Schon kleinste Reflektionen können selbst dunkelste Bilder zum Leben erwecken.

Eigentlich sind sie Architektin. Wie konstruieren Sie Ihre Bilder?
Die Ausbildung als Architektin hat bei mir ein sehr starkes Fundament für Komposition und Geometrie in der Fotografie gelegt. Meistens verläuft die Interaktion mit Linien und Formen in der Street Photography intuitiv, aber manchmal möchte ich den Rahmen auch ganz bewusst setzen. Ich baue ein Muster aus Objekten auf, die sich überlagern, sich rhythmisch wiederholen und mit dem Raum um sie herum interagieren. Architektur wird oft als gefrorene Musik bezeichnet. Versteht man den Verlauf des Lebens als Melodie, dann spiegelt meine Arbeit einen eingefrorenen Moment daraus wider.

Sie haben mit der Leica Q2 fotografiert. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ich habe lange mit der analogen Leica M7 gearbeitet, daher war ich mit dem Einsatz des Entfernungsmessers vertraut. Bei Digitalkameras habe ich mich an den Autofokus gewöhnt, vor allem bei Aufnahmen im Freien. Bei der Leica Q2 war ich erstaunt, wie einfach und komfortabel die manuelle Scharfstellung ist – sie ist erstaunlich leichtgängig und schnell zugleich. Die Kamera selbst liegt gut in der Hand und zieht keine Aufmerksamkeit auf sich; sie ist sehr leise. Und natürlich sind die Lichtstärke des Objektivs und die Schärfe der Bilder erstaunlich.

Sie fotografieren durch Scheiben und Strukturen und verfremden so den Blickwinkel des Betrachters. Ist Ihnen Kunst in der Fotografie wichtig?
Ich stehe dem Stil von Gueorgui Pinkhassov und Saul Leiter sehr nahe – ich liebe ihre Kreativität, ihre Weichheit und ihre „Textur“. Sie arbeiten meisterhaft mit Reflexionen und Objekten im Vordergrund. Ich verstehe Kunst als wichtigen Teil meiner selbst, sie ist aber keine Flucht in die Verträumtheit. Ich finde es interessant, die Herangehensweise an eine Reportage und Kunst zu kombinieren. Glas, Muster und Strukturen im Vordergrund bilden eine Art Grenze zwischen zwei Welten. Es ist, als dränge ich den Betrachter, das Bild vor sich anzuschauen, es nicht „wörtlich“ zu nehmen.

So ergibt sich oft eine Parallelität in den Motiven: Die „Dinge“ sind nicht gleich auf den ersten Blick zu erfassen. Wie die Stadt selbst erkundet man sie nach und nach.
Das ist ein guter Vergleich. Jetzt, da wir Zugriff auf so viele Informationen und Reiseführer haben, kann man sich auch leicht verlaufen. Man hört nicht mehr auf seine Wünsche oder macht keine eigenen Entdeckungen. Bei der Wahrnehmung von Städten ist es mir wichtig, meine eigene Meinung zu bilden.

Katya Alagich wurde 1991 in Bern, Schweiz, geboren und wuchs in einer russisch-bosnischen Familie in Moskau auf. Sie fotografiert seit ihrem 15. Lebensjahr und hält mit ihrer Kamera die Welt fest, die sie umgibt: Unbekanntes, Subtiles und Intimes. Nach ihrem Studium der Architektur widmet sie sich seit einigen Jahren ausschließlich der Fotografie. Was sie im Studium gelernt hat, spiegelt sich in ihrem Werk wider, das Kunst, Malerei, Geometrie und die Arbeit mit Licht und Schatten verbindet.

Leica Q2

Accept nothing but perfection