Wie erleben Sie den Corona-Lockdown in Berlin?
Nach dem ersten Schock durch die Pandemie-Situation habe ich diese Zeit irgendwie ziemlich genossen: Ohne all die Ablenkungen, die ich in meinem Leben gewohnt bin, gibt es plötzlich genug Zeit und Raum, um mich auf Ideen und Projekte zu konzentrieren, von denen ich seit Jahren träume, und meinen Blick nach innen zu wenden. Da ich mein ganzes Leben lang ein Immigrant war, habe ich verschiedene schwierige Situationen durchlebt, die eine Anpassung erforderten. Diese Erfahrungen haben mich gelehrt, kreativ mit solchen Situationen umzugehen und etwas Positives zu finden, auch wenn alles hoffnungslos und deprimierend erscheint.

In der Regel fotografieren Sie andere Menschen in einem erzählerisch-dokumentarischen Stil. Durch den Lockdown sind Sie nun selbst zum Objekt Ihrer Fotografie geworden.
Ja, es stimmt, dass die meisten meiner früheren Projekte von anderen Menschen, Familien, Beziehungen und Kulturen handeln. Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass ich mich selbst fotografiere. In den Jahren 2007–2008 habe ich bereits ein Projekt mit dem Titel The Space Between realisiert, bei dem ich mich selbst in engen imaginären Räumen fotografiert habe. In den letzten Jahren habe ich darüber nachgedacht, mich wieder auf die Themen einzulassen, die ich damals erforscht habe, und mich insbesondere auf meine Träume, Erinnerungen, eine erneute Verbindung zur Natur und mein inneres Selbst zu konzentrieren. Als die Corona-Sperren in Kraft traten, wurde mir plötzlich klar, dass das der perfekte Zeitpunkt ist, meinen Blick nach innen zu wenden.

Bitte berichten Sie uns von Ihrem künstlerischen Prozess.
Diese Serie erstelle ich auf eine sehr intuitive Art und Weise, fast ohne Planung, einfach im Fluss des Tages und meinem momentanen Gefühl. Jeder Tag bringt einen anderen geistigen Zustand und eine andere Inspiration mit sich. Manchmal sehe ich etwas bei einem Spaziergang in einem Park oder auf der Straße und das führt zum nächsten Bild. Mir gefällt die Idee, für diese Serie ein Minimum an Objekten und Requisiten zu verwenden, was in meiner Arbeit eigentlich recht neu ist. In meinen anderen Projekten sind meine Bilder sehr oft mit Gegenständen, Möbeln, Menschen etc. gefüllt. Es fühlt sich irgendwie erfrischend und befreiend an, Bilder beinahe ohne Bezug auf irgendetwas zu entwerfen. Es macht den Prozess meditativer und selbstbezogener.

Sie verwenden in der Serie Inside Out eine starke symbolische Bildsprache, den Granatapfel etwa. Woher beziehen Sie Ihre Inspiration?
Die Arbeit mit Symbolen hat mich schon immer angezogen, denn ich interessiere mich für Psychologie und Mythologie und für die Auswirkungen symbolischer Bilder auf unser Unterbewusstsein. Sie können Reaktionen und Assoziationen auslösen, die zu einer tieferen Entdeckung des eigenen Selbst und anderer Personen führen. Ich schöpfe meine Inspiration aus verschiedenen Quellen, aus Mythologie, Folklore, Märchen und natürlich Psychologie. Der Granatapfel ist eines meiner Lieblingssymbole, und ich habe ihn in früheren Arbeiten auf unterschiedliche Weise untersucht. Er ist eines der reichhaltigsten Symbole, das in fast allen Kulturen und Religionen vorkommt, und als solches vereint er all diese Kulturen in der Darstellung einer Art kollektiven Wissens. Einige der gemeinsamen Bedeutungen des Granatapfels sind Fruchtbarkeit, Leben, Tod, Macht, Langlebigkeit und Reichtum. Ich verwende gerne Symbole, die eine universelle Bedeutung haben, weil ich aufgrund meines Migrationshintergrunds mit meinen Bildern immer auf der Suche nach einer Art universeller Sprache bin, die Menschen unabhängig von ihrer kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit verbinden und zu ihnen sprechen kann.

Welche Gefühle erleben Sie und wollen Sie in diesen Bildern zum Ausdruck bringen?
Dieses Projekt ist eine Reise der Selbstentdeckung. Die Corona-Pandemie hat mich mehr denn je die Notwendigkeit erkennen lassen, mich wieder mit der Natur zu verbinden. Ununterbrochen zerstören wir unseren Planeten, vergessen all die wunderbaren Geschenke, die er uns jeden Tag bietet, und dass wir eigentlich eins mit diesem Planeten sind. Vielleicht ist diese Pandemie für uns ein Signal aus dem Universum, innezuhalten, nachzudenken und unsere Haltung zu ändern. Ich selbst habe leider keine echte Verbindung zur Natur, denn ich habe mein ganzes Leben lang in großen Städten gelebt. Meine einzige wirkliche und doch imaginäre Verbindung zur Natur besteht in meine Erinnerungen an das ukrainische Dorf, in dem mein Großvater lebte und das ich als Kind besucht habe. Daher sehne ich mich in dieser Serie, die auch eine Erweiterung meiner Erkundungen in der Serie The Space Between ist, danach, meine Wurzeln und meine Weiblichkeit durch die Natur wiederzuentdecken.

In dieser Serie ist das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten sehr stark ausgeprägt. Fotografieren Sie nur bei Available Light?
Ja, glücklicherweise scheint es durch das Fenster in den Raum, in dem ich fotografiere, sehr starkes Sonnenlicht, das im Laufe des Tages verschiedene Formen und Muster erzeugt. Ich spiele gerne mit Licht und Schatten, weil ich dadurch eine dramatischere psychologische Wirkung erzielen kann. Und es erlaubt mir, den Bildern mehr Tiefe und mehr Schichten zu verleihen. Das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten ist in gewisser Weise wie das Wechselspiel zwischen unserem Bewusstsein und unserem Unterbewusstsein.

Bitte sagen Sie uns, welche Kamera und Ausrüstung Sie benutzen.
Ich habe das große Glück, dieses Projekt mit der beeindruckenden Leica Q2 zu fotografieren, die mir LFI und Leica Camera freundlicherweise geliehen haben. Ich habe die Q2 bereits für meine jüngste Dokumentarserie Poltava Neverland verwendet, die 2019 in der Ukraine entstand, und ich muss sagen, dass ich richtiggehend in diese Kamera verliebt bin! Eine perfekte Kombination aus kompakter Größe, einfacher Bedienung und einem sehr leistungsstarken Sensor. Ich denke, die Verwendung dieser Kamera hat meine Arbeit definitiv in eine positive Richtung beeinflusst, weil ich mit ihr viel freier und spontaner arbeiten kann. Und sie kann sehr gut mit kontrastreichem Licht und schlechten Lichtverhältnissen umgehen.

Leica Q

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Im Jahr 2017 waren Sie Finalistin beim Leica Oscar Barnack Award. Wie hat sich das auf Ihre Karriere ausgewirkt?
Das war definitiv einer der größten Erfolge meiner Karriere. Sie brachte meiner Arbeit viel mehr Aufmerksamkeit und erweiterte meine beruflichen Verbindungen. Eines der besten Ergebnisse war es, das Leica Team kennenzulernen und die beruflichen und auch persönlichen Beziehungen zu einigen Personen weiter auszubauen. Ich bin wirklich glücklich, so viele großartige Menschen zu kennen, die für Leica arbeiten, und die Möglichkeit zu haben, Unterstützung für meine Projekte zu erhalten und die Leica Ausrüstung nutzen zu können. All diese Dinge hatten definitiv einen großen positiven Einfluss auf meine professionelle und kreative Arbeit. Ich liebe den Spirit des Leica Teams, den ich beinahe als familiär empfinde.

Über Viktoria Sorochinski

Sorochinski, 1979 in der Ukraine geboren, lebte und studierte in Russland, Israel, Kanada und den USA, bevor sie sich in Berlin niederließ. Seit Abschluss ihres Masters of Fine Arts an der New York University 2008 hatte sie fast 70 Ausstellungen in 21 Ländern in Europa, Nord- und Südamerika und Asien. Ihre Arbeiten wurden in über 70 internationalen Publikationen vorgestellt und besprochen, darunter ihre Monografie Anna & Eve, die in Deutschland bei Peperoni Books erschienen ist. Sie ist außerdem Preisträgerin und Finalistin zahlreicher internationaler Preise, Stipendien und Förderungen wie dem Arnold Newman Prize, dem Leica Oskar Barnack Award, dem LensCulture Exposure Award, dem Lucie Award, Magenta Flash Forward, PDN Photo Annual und dem Voies Off Arles Award.

Neben ihrer Arbeit als Künstlerin und Fotografin unterrichtet Sorochinski auch Workshops auf der ganzen Welt und bietet private Beratungen für Fotografen an. Aufgrund der Corona-Krise wird sie nun neben der Online-Beratung auch Online-Workshops anbieten. Alle Informationen zu Details und zur Anmeldung finden Sie auf ihrer Website. Wie es mit Sorochinskis Serie Inside Out weitergeht, können Sie auf Instagram verfolgen.