Die neue Kamera kam mit der Post gerade rechtzeitig zum Lockdown. Als sich das alltägliche Leben wesentlich veränderte, war auch Julia Baier gezwungen, ihren Alltag neu zu organisieren. Eigentlich wollte sie die Leica M10 Monochrom in Rom ausprobieren, aber die rasante Veränderung der Lebensrealität durchkreuzte auch diese Pläne. Rasches Umdenken war nun gefragt. Die Fotografin ließ sich auf die neue Situation ein und entwickelte ein Konzept, das sich nun nicht nur in Bildern, sondern auch in einem begleitenden assoziativen Text präsentiert: Die Decke über Berlin. Wir stellen das Projekt vor und sprachen mit der Fotografin.

Alles ist ausgebremst, eingefroren, verunsichert. Nur das Licht, das ist klar und kantig wie eh und je zu dieser Jahreszeit. Zarte Frühlingsgefühle kollidieren mit dem Stillstand der Dinge. Es fällt mir schwer, innezuhalten. Ich darf noch spazieren gehen, daher mache ich mich auf und schaue mir meine Stadt an. Vieles erkenne ich wieder, aber manches ist auch befremdlich anders. Im Radio höre ich den Begriff „Zwischenraumkompetenz“, das sei das, was wir nun bräuchten. Mit dem Dazwischen klarkommen. Resilienz, das könnte das Wort des Jahres werden.
Wir befinden uns in einem Schwebezustand, und je länger ich durch diese reduzierte Stadt streife, desto mehr freue ich mich über die Stille, die freundlich zunickenden Nachbarinnen und Nachbarn an den Fenstern, das laute Gezwitscher der Vögel, den Platz auf den Bürgersteigen, die Menschen mit Zeit. Aber auch sie sind da: die Grübeleien, das Gefühl, abgeschnitten zu sein vom Rest der Welt, die täglich aktualisierten Zahlen. Mein Vater gehört zur Risikogruppe, ich mache mir Sorgen. Wann kann ich meine Eltern wieder besuchen? Was werden der Abstand und das Misstrauen wohl mit uns machen? Wo steuern wir Menschen hin?
Es liegt eine Decke über Berlin und vielleicht auch über der Welt, aber sie ist mir zum Glück noch nicht auf den Kopf gefallen. Ich versuche, ihn aufrecht zu halten und lasse mich los, in diesen ungewöhnlichen Schwebezustand hinein.

Wie sind Sie bei dem Projekt vorgegangen?
Alles ergab sich ganz spontan. Ich packte die Kamera aus, schwang mich auf mein Rad und schaute mir mein Berlin genauer an. Die Bilder sind überwiegend in der Nähe meines Lebensmittelpunkts entstanden. Also irgendwo zwischen meinem Zuhause in Kreuzberg, meinem Atelier in Neukölln und meinem Garten an der Spree. Das erste Bild der Serie entstand am 15. März und das letzte am 19. April.

Welche Überlegung steht hinter dem Namen der Serie?
Eine Decke ist ein passendes Sinnbild für die Ambivalenz dieser seltsamen Zeit. Eine Decke bedeutet Schutz, Wärme, Geborgenheit, sie kann dich aber auch abschirmen, erdrücken, und du kannst dich darunter verstecken, sie trennt dich von der Außenwelt ab. Diese Zweischneidigkeit wollte ich über den Titel und letztlich auch in den Bildern ausdrücken.

Parallel zu den Bildern ist auch der Text entstanden?
Ja, ich habe in der Krise fast täglich meine Gedanken und Träume morgens in ein Büchlein notiert. Das half mir, die Situation zu reflektieren und ich habe prinzipiell auch Spaß daran, mit Worten zu spielen.

Wie erleben Sie Berlin derzeit?
Die einen verkriechen sich unter der Decke, reagieren gelähmt und verunsichert durch die neue Situation. Andere sind total im Stress, weil sie nicht wissen, wie sie Homeschooling und Homeoffice in einer noch dazu viel zu engen Wohnung unter einen Hut bringen sollen. Manche erleben aber auch einen kreativen Schub! Und freuen sich über die Zeit, die plötzlich da ist für unerledigte Dinge und die Liebsten. Auch bei mir ist es eine wackelige Gefühls-Gemengelage. Ich schwanke zwischen Euphorie und Aktionismus, aber auch hin zu einem traurigen Gefühl des Abgeschnittenseins und der Schwere.

Worauf kam es Ihnen beim Fotografieren an?
Wichtig ist die Offenheit, mit der du das Haus verlässt. Du schärfst deine Wahrnehmung für das, was um dich herum geschieht. So hörst du plötzlich die Vögel viel lauter, du kommst mit Nachbarinnen und Nachbarn ins Gespräch, die du nur vom Sehen her kennst. Du siehst die Schönheit eines zufällig zum Lüften ausgebreiteten Teppichs auf einem Balkon.

Gibt es einen Tipp, wie bei Ihnen die besten Bilder entstehen?
Folge deinem Impuls zu fotografieren sofort, wenn du ihn spürst. Das Bild in meiner Serie mit den Schneeflocken wäre nicht entstanden, hätte ich nicht sofort alles stehen- und liegengelassen, als ich aus dem Fenster diese Riesenflocken (die ersten und einzigen dieses Winters!) erblickte. Ich lief mit der Kamera zur nächsten Kreuzung und nach 10 Minuten war der Zauber auch schon wieder vorbei.

Welche Rolle spielt die Kamera in Ihrer Arbeit?
Für das spontane Fotografieren auf der Straße war die Leica M10 Monochrom
einfach die perfekte Kamera. Meinen Gefühlsschwankungen kann ich über das Schwarzweiß etwas Klares entgegensetzen. Durch das Schwarzweiß bekommt die Serie außerdem etwas Zeitloses und Universales, was für dieses Thema passend ist, da wir es ja gerade mit einer weltweiten Situation zu tun haben. Ich bin gespannt, wie sich die extrem hohe Auflösung der Kamera bemerkbar machen wird, wenn ich eines Tages große Prints für Ausstellungen davon erstellen werde.

Welche positiven Energien ziehen Sie aus der momentanen Situation?
Ich sortiere mich, ich vergesse, welcher Wochentag gerade ist, ich nehme mir Zeit für spontane lange Gespräche – bin also mehr im Hier und Jetzt.

Worauf freuen Sie sich zukünftig am meisten?
Auf dichtgedrängte Partys, die Öffnung des Prinzenbads und darauf, alle meine Freundinnen und Freunde richtig in den Arm zu nehmen!

Was würden Sie spontan am liebsten fotografieren?
Ein Porträt meiner Eltern irgendwo vor dem glitzernden Mittelmeer. Und danach würde ich gern darin baden.

Ist die Die Decke über Berlin für Sie abgeschlossen?
Vielleicht gibt es irgendwann ein Folgekapitel, Corona-Zeit Teil zwei, wer weiß …

Julia Baier Julia Baier lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Fotografie an der Hochschule für Künste Bremen. Seit 1998 ist sie als freischaffende Fotografin tätig. Sie fotografiert für viele nationale und internationale Agenturen, Magazine und Zeitungen und publizierte zahlreiche Bildbände. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, durch Stipendien gefördert und vielfach ausgestellt. Seit 2019 ist Baier Mitglied des Kollektivs UP Photographers. Erfahren Sie mehr über die Fotografin auf ihrer Webseite und Instagram.