Immer wieder tauchen im Río Magdalena in Kolumbien Leichen auf. Ihre letzte Ruhestätte finden die unbekannten Verstorbenen in den Gemeinden am Laufe des Flusses. Felipe Romero Beltráns sanfte und doch eindringliche Bilder fangen Momente der Trauer, des Gebets und den Wunsch nach Vergangenheitsbewältigung ein. Im Interview spricht er über die Hintergründe des Projekts, über fotografische Vorbilder und über seine ganz eigene Herangehensweise an die Dokumentarfotografie.

Wann haben sie angefangen zu fotografieren?
Mit 16 Jahren habe ich in der Schule mit der Fotografie begonnen. Damals war ich sicher, dass ich Philosophie an der Universität studieren wollte, aber als ich zum ersten Mal eine Kamera in die Hand nahm, wusste ich, dass meine Leidenschaft nicht den Dingen galt, die man sagt, sondern den Dingen, die man sieht.

Wie hat sich die Leidenschaft im Laufe der Zeit entwickelt?
Als ich anfing zu fotografieren, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich wollte eigentlich Fotografie studieren, aber in Kolumbien gibt es keine Universitäten mit einem Abschluss in Fotografie, also beschloss ich, mich für ein Stipendium in Buenos Aires zu bewerben. Ich erhielt eine Zusage und die nächsten sechs Jahre habe ich in Argentinien, Israel und Palästina verbracht. Derzeit lebe ich in Madrid. Ich arbeite als Dokumentarfotograf für Zeitschriften und schreibe gleichzeitig eine Doktorarbeit über Fotografie, was mir die Entwicklung langfristiger Projekte in Lateinamerika ermöglicht.

Könnten Sie uns das Phänomen der Leichen im Fluss beschreiben und den Konflikt, der vermutlich die Ursache ist?
Der Bürgerkrieg in Kolumbien hat Tausende von Menschenleben gekostet. Die offiziellen Zahlen liegen bei 220.000. Wenn ein Land so viele Todesopfer hat, ist man erfinderisch, wie man sich der Beweise, sprich der Leichen, entledigt. Der effektivste Weg, eine Leiche in Kolumbien verschwinden zu lassen, ist, sie in den Fluss zu werfen. Der Río Magdalena ist 1600 Kilometer lang – ein perfekter Ort, um die Beweise zu verstecken. Wegen seines Fließverhaltens entstehen jedoch in manchen Gegenden Strudel, die alles, was sich im Fluss befindet, an die Oberfläche bringen – auch Leichen.

Was geschieht mit den Leichen, wenn sie gefunden wurden?
Einwohner von Gemeinden in der Nähe holen die Leichen ab, begraben sie und beten für sie. Sie führen ein Ritual, eine Zeremonie durch, um den Leichnam zu „adoptieren“ und neu zu taufen. Um es kurz zu erklären: Viele Menschen in der Gegend sind indirekt ebenfalls Opfer und wählen einen im Fluss gefundenen Leichnam als Ersatz für einen vermissten Angehörigen.

Wie würden Sie die Denkweise der Menschen beschreiben, die sich um die Leichen kümmern? Welchen Eindruck haben diese Menschen bei Ihnen hinterlassen?
Ich habe Gabriel Garcia Marquez’ magischen Realismus nicht wirklich verstanden, bis ich mit diesem Projekt begann. Die lokalen Gemeinden erleben diese Situation als Teil ihrer Realität. Manchmal braucht man nur auf die eigene Stadt zu schauen, um zu erkennen, dass es bestimmte Überzeugungen gibt, die seit Jahrhunderten akzeptiert werden; aber wenn jemand von außen darauf schaut, wäre er überrascht.

Hat dieses Phänomen das soziale Leben der Gemeinden entlang des Flusses verändert?
Es hat sie völlig verändert. Es ist der Kern eines riesigen sozialen Netzes, das Hunderten von Familien hilft, trotz des Kriegs weiterzumachen. Es ist eine kulturelle Manifestation, bewirkt aber auch eine Heilung der Gesellschaft.

Ihre Bilder wirken sehr verträumt, ruhig und weich, obwohl sie den Tod thematisieren. Was sollen Ihre Bilder beim Betrachter hervorrufen?
Ich wollte ein Projekt machen, das sich von den Bildern in den Medien und vom klassischen Fotojournalismus unterscheidet. Ich versuchte, alles in die Mitte zu stellen, ein flaches und sauberes Bild zu machen. Alle Bilder sehen aus, als ob sie in der Zeit schweben würden – es gibt keine Handlung, es passiert nicht wirklich etwas. Ich glaube, ich habe versucht, ein Projekt mit verschiedenen Komplexitätsebenen zu entwickeln, ohne direkte Wirkung, aber mit einer starken Aussage über den Fall Kolumbien.

Wie ließ es sich mit der Leica Q2 arbeiten?
Es war großartig – so eine kleine Kamera mit erstaunlicher Bildqualität. Ich bin es gewohnt, mit dem Mittelformat zu arbeiten, aber die Arbeit mit der Q2 war komfortabel und sicher. Ich schätze die Bildergebnisse sehr.

Aus welchem Grund haben Sie das eher ungewöhnliche Seitenverhältnis 5:4 gewählt?
Es bringt Stabilität in die Bildkomposition. Das Kleinbildformat zwingt Sie zu einer bestimmten Art der Bildkomposition, und es trägt die gesamte Bildsprache des klassischen Fotojournalismus in sich. Ich wollte ruhige, stille und stabile Bilder.

Wer hatte den größten Einfluss auf Ihre Fotografie?
Ich habe eine lange Liste im Kopf, aber ich wähle aus vier verschiedenen Generationen jeweils einen Fotografen: August Sander, Ursula Schulz-Dornburg, Alec Soth und Max Pinckers.

Felipe Romero Beltrán, 1992 in Bogotá geboren, lebt heute in Madrid und arbeitet als Dokumentarfotograf. Er hat in Kolumbien, Argentinien, Israel und Palästina gelebt und sich auf soziale, politische und zwischenmenschliche Themen spezialisiert, für die er neue narrative Perspektiven eröffnen möchte. Derzeit arbeitet er in einem Doktorandenprogramm für Dokumentarfotografie an der Universität Madrid.

Erfahren Sie mehr über Felipe Romero Beltráns Fotografie auf seiner Website und auf Instagram. Weitere Informationen über sein Projekt Nomen Nescio und ein ausführliches Portfolio finden Sie in der aktuellen LFI 4/2020.