Hoch aufragende Wolken, endloser Himmel und die Geometrie einer verlassenen Stadt: Seit der Abriegelung Chicagos am 21. März 2020 führt Craig Semetko ein visuelles Tagebuch mit ruhigen, fast meditativen Szenen. Im Interview spricht der Fotograf darüber, wie er mit der von der Regierung angeordneten Isolation zurechtkommt, wie er sich eine positive Sicht bewahrt und warum der Blick aus seiner Wohnung jetzt eine wichtige Rolle in seiner Arbeit spielt.

Sie halten sich in Ihrem Zuhause in Chicago, Illinois, auf. Sie hatten bereits erwähnt, dass Illinois unter den 50 Bundesstaaten die vierthöchste Zahl an bestätigten Covid-19-Fällen aufweist. Wie erleben Sie diese Situation? Machen Sie sich Sorgen vor einer Ansteckung?
Glücklicherweise bin ich derzeit gesund, ich fühle mich sehr gut. Seit wir das letzte Mal gesprochen haben, ist Illinois um einen Platz nach oben gerückt und hat jetzt die dritthöchste Zahl von Fällen in den USA. Das gibt Ihnen sicherlich zu denken. Mache ich mir Sorgen? Nun, ich hatte vor einigen Jahren eine schwere Lungenentzündung, die einen Lungenflügel ziemlich stark vernarbt hat. Ich nehme also an, das macht mich zu einem dieser Menschen mit Vorerkrankung, die mich einem höheren Risiko eines … nicht so guten Ausgangs aussetzt. Ich versuche also wirklich, eine Ansteckung zu vermeiden. Manche würden das als Angst bezeichnen. Ich bevorzuge den Begriff „übervorsichtig“ [lacht].

Seit Beginn des Lockdowns am 21. März haben Sie Ihr Zuhause kaum verlassen. Wie kommen Sie als jemand, der es gewohnt ist, täglich unterwegs zu sein, mit dieser neuen Situation zurecht? Haben Sie andere Routinen entwickelt?
Ich war nie ein Freund von Struktur, sowohl zu meinem Vorteil als auch zu meinem Nachteil. Und der Lockdown hat jede Struktur, die ich vorher hatte, erschüttert. Ich bin jetzt auf diese Routine verfallen: Ich wache gegen 5.15 Uhr auf und warte auf den Sonnenaufgang. Je nachdem, wie er ausfällt, fotografiere ich eine Weile oder gehe wieder ins Bett. Ich meditiere, koche Kaffee, mache Frühstück, lade Dateien herunter und bearbeite sie, sehe die Nachrichten – aber ich habe auch immer das Fenster im Blick, um zu sehen, ob etwas Interessantes passiert. Am Nachmittag wird das Licht besser und ich passe genauer auf. Und den ganzen Tag über telefoniere ich über FaceTime mit der Familie oder Freunden. In vielerlei Hinsicht unterscheidet sich das gar nicht so sehr von meinem normalen Leben, außer dass ich von innen statt draußen fotografiere.

Ursprünglich waren Sie Comedy-Autor und -Darsteller. Welche Fähigkeiten konnten Sie für Ihre Tätigkeit als Street Photographer übernehmen?
Um gut schreiben oder schauspielern zu können, insbesondere in Comedys, muss man sehr aufmerksam sein. Menschen zu beobachten, das ist seit meiner Kindheit eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Wenn man Menschen lange genug beobachtet, fängt man an, ihr Verhalten zu antizipieren. Das ist ein perfekter Ausgangspunkt, um in Texten oder auf der Bühne Charaktere zu erschaffen. Das ist auch bei der Street Photography äußerst hilfreich. Auch dort geht es im Grunde genommen darum, Menschen zu beobachten und ihr Verhalten zu antizipieren. Ich hatte 39 Jahre Praxis, bevor ich mir meine erste Kamera kaufte, also war der Sprung vom Schreiben und Schauspielern zur Street Photography nicht so groß.

Hat sich eine dieser Fähigkeiten vielleicht auch als hilfreich bei der Handhabung des Lockdowns erwiesen?
Sinn für Humor ist keine Fähigkeit an sich, aber er ist definitiv eine große Hilfe im Umgang mit dem Alltagsstress, den diese Pandemie auslöst. Das bedeutet nicht, dass ich herumlaufe und Corona-Witze mache, sondern dass Sinn für Humor eine Perspektive zeigen kann, wenn die Dinge schwierig erscheinen, es aber in Wirklichkeit nicht sind. Wenn Sie sich daran erinnern, dass es nicht wirklich das Ende der Welt ist, wenn Ihnen die Erdnussbutter ausgeht, dann geht’s Ihnen gut.

Sehen Sie sich unter den gegenwärtigen Umständen immer noch als „Street“ Photographer?
Das ist eine interessante Frage. Obwohl ich nicht auf der Straße fotografiere, setze ich meine Fähigkeiten als Street Photographer ein – in diesem Fall als Landschaftsfotograf. Normalerweise beobachte ich Menschen, die miteinander interagieren, und suche genau den Moment, in dem das Drama seinen Höhepunkt erreicht – Cartier-Bresson nannte es „den entscheidenden Moment“. Für mich hatte es immer mehr mit einem dramatischen Moment zwischen Menschen zu tun als mit Licht und Schatten. Jetzt aber, wenn ich aus meinem Fenster schaue, sind Licht und Schatten der Moment. Ich warte auf den Bruchteil einer Sekunde, wenn die dunklen Wolken auseinanderreißen und die helle Sonnenscheibe durchscheint. Für einen Augenblick ist sie da und dann ist sie wieder verschwunden. Es ist nicht anders, als wenn man zum Beispiel erwartet, dass sich ein Paar auf der Straße küsst. Man wartet, man beobachtet, und man schlägt zu, wenn sich der Moment offenbart. Ich stelle fest, dass die Herausforderungen, die ein gutes Foto auf der Straße und ein gutes Foto einer Landschaft mit sich bringen, bemerkenswert ähnlich sind.

Fühlt sich das ein wenig an wie eine vorübergehende Pause von Ihrem angestammten Genre?
Ich habe mich mit dem Label „Street Photographer“ nie wohl gefühlt. Es schränkt ein, aber ich verstehe, dass es sich um einen kurzen Begriff handelt, der den Leuten hilft, sich sofort ein Bild davon zu schaffen, was ich mache. In meinem Instagram-Account bezeichne ich mich selbst als „Typ mit einer Kamera“. Das deckt alles ab, worauf ich im Moment gerade Lust habe. Abgesehen davon habe ich nicht unbedingt das Gefühl, dass ich eine Pause bei der Street Photography mache – ich benutze nur dieselben Werkzeuge auf einer anderen Baustelle.

Welche Aspekte dieser Situation sind für Sie am schwierigsten zu bewältigen? Ist Humor manchmal Ihr Bewältigungsmechanismus?
Die größte Herausforderung besteht darin, die Nachrichten zu verfolgen. Es ist schrecklich, das Leid zu sehen – körperlich, geistig, emotional und wirtschaftlich –, das die Menschen überall auf der Welt durchmachen. Es hilft, den Fernseher auszuschalten und ein Buch zu lesen oder Musik zu hören. Aber ich habe enge Freunde, die von den Folgen der Pandemie schwer betroffen sind, sodass es mir, offen gesagt, schwer fällt, das mit Humor zu nehmen.

Von Ihrer Wohnung aus fällt Ihr Blick auf den Lake Michigan und Sie haben viele atemberaubende Bilder direkt aus Ihrem Fenster aufgenommen. Wie hat sich Ihre Beziehung zum See in den letzten Wochen verändert?
Bis vor kurzem war es immer nur „der See“. Ich habe ihn nie wirklich „gesehen“, bis ich eingesperrt wurde und nichts anderes zu tun hatte, als ihn anzuschauen. Jetzt ist mir bewusst geworden, wie sehr sich der See ständig verändert. An einem Tag ist er vielleicht glatt wie Glas mit einer grünlichen Farbe, am nächsten Tag ist er vielleicht gewaltig rau, wirft Wellen auf den Lake Shore Drive und wirbelt den Grund auf, sodass das Wasser braun wird. An manchen Tagen ist keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Dann kommt ein Sturm auf, mit dunklen Wolken, die so vorhersehbar sind, dass man erwartet, dass die Vier Reiter der Apokalypse jede Minute aus ihnen herausgaloppieren. Der See zieht jeden Tag eine Show ab. Einige Tage sind farbenfroher als andere.

Für viele von uns hat der Lockdown zu einer neuen Verbindung mit der Natur geführt. Aber kann ein Wolkenspektakel mit den menschlichen Eskapaden, Dramen und Eigenheiten konkurrieren, die sich auf einer belebten Straße abspielen? Vermissen Sie diese Momente nicht?
Ja, das tue ich, aber ich freue mich auch, etwas anderes anzunehmen. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Landschaftsfotograf sein würde, und vielleicht werde ich das nach dem Lockdown auch nicht mehr sein. Aber im Moment macht es mir Spaß. Sie haben Recht, ganz normale Leute, die auf der Straße seltsame und lächerliche Dinge tun, sind beinahe unübertrefflich, aber unterschätzen Sie nicht den Unterhaltungswert von Wolken. Neulich sah ich am Morgen eine große, aufgeblasene von oranger Farbe, die Donald Trump verblüffend ähnlich sah, wie er einen Whopper mit Pommes Frites isst.

Würden Sie sagen, dass die Fotografie etwas ist, zu dem Sie sich verpflichtet fühlen – vielleicht sogar etwas, das Ihnen hilft, diese seltsamen Zeiten zu überstehen? Schließlich könnten Sie einfach eine Pause einlegen und den Lockdown nutzen, um Bücher zu lesen oder eine neue Sprache zu lernen.
Die Fotografie war für mich immer Herausforderung und Meditation zugleich. Wenige Dinge im Leben verlangen eine so intensive Konzentration, dass man die Zeit aus den Augen verliert; für mich gehört das Fotografieren dazu. Wenn ich in meine Arbeit vertieft bin, vergesse ich sogar das Essen – was, wenn man mich kennt, wirklich etwas aussagt. Ich lese auch Bücher, schaue mir klassische Filme an, und ich lerne online Italienisch – oder versuche es zumindest. Aber das Fotografieren während dieser Pandemie hat mich gezwungen, die Welt aus dem achten Stock zu betrachten anstatt auf Straßenniveau, und das war sowohl herausfordernd als auch lohnend. Es hilft mir definitiv, diese Zeit zu überstehen. Und es macht mich neugierig auf das, was als Nächstes passiert.

Welche Ausrüstung haben Sie für diese Serie gewählt, und wie hat sie sich bewährt?
Ich arbeitete mit einer Leica SL2 mit dem Vario-Elmarit-SL 1:2.8–4/24–90 ASPH., dem APO-Vario-Elmarit-SL 1:2.8–4/90–280 und einer Leica M10-P mit dem Summilux-M 1:1.4/35 ASPH. und dem Summicron-M 1:2/28 ASPH. Beide Kameras und alle Objektive funktionierten einwandfrei. Ich benutze schon ewig M-Kameras, aber die SL2 ist mir noch etwas fremd und die Brennweite 90–280 ist für mich völlig neu. Die meisten Fotos in dieser Serie wurden mit der SL2 und den beiden Zoomobjektiven aufgenommen. Wenn ich aus dem Fenster meiner Wohnung heraus fotografiere, wäre es schwierig, mit etwas Kürzerem als, sagen wir, 75 mm das zu bekommen, was ich brauche.

Craig Semetko, geboren 1961, ist ein amerikanischer Fotograf mit Sitz in Los Angeles und Chicago, Illinois. Bekannt für seine humorvollen Fotos, war Semetko viele Jahre lang Comedy-Autor und -Schauspieler, bevor er im Jahr 2000 die Fotografie entdeckte. Sein erstes Buch, Unposed, wurde 2009 mit einem Vorwort von Elliott Erwitt veröffentlicht. Sein nächstes Buch, India Unposed, folgte 2014. Er trug auch zu dem kürzlich veröffentlichten Sammelband Inspiration Leica Akademie bei. Als Absolvent der Northwestern University unterrichtet Semetko weltweit Workshops, und seine Drucke sind in Sammlungen in Europa, Asien und den Vereinigten Staaten zu finden. Erfahren Sie mehr über seine Fotografie auf seiner Website und bei Instagram.