Surreal, mystisch und geheimnisvoll – so lässt sich das Sleeping Pill-Projekt von Alisa Martynova wohl am besten beschreiben. Ihr imaginäres Tagebuch visualisiert Träume, die zur Zeit des Corona-Lockdowns entstanden sind und kehrt innere Gefühlswelten nach aussen. Im Interview spricht die Fotografin über ihr eigenes Kopfkino, die schwer zu fassenden Fähigkeiten des Geistes und den schmalen Grat zwischen Introspektion und Offenheit gegenüber der Umwelt.

An welchem Punkt in Ihrem Leben haben Sie mit der Fotografie begonnen?
Mit der Fotografie habe ich vor fünf Jahren angefangen, nachdem ich mein Philologiestudium in Russland abgeschlossen habe. Ich suchte nach etwas, mit dem ich mich ausdrücken und mit meinen Mitmenschen in Beziehung treten konnte, also wählte ich die Fotografie. Schon früh war ich von dem Prozess in der Dunkelkammer fasziniert: mit all seinen Ritualen erschien es mir wie Magie.

Wie würden Sie die Essenz Ihres Projekts Sleeping Pill in wenigen Sätzen beschreiben?
Bei den Recherchen für das Projekt stieß ich auf einen Satz aus dem ersten Manifest des Surrealismus von André Breton aus dem Jahr 1924, der die Idee des Projekts perfekt zum Ausdruck bringt. Ich möchte ihn hier zitieren:

Der Geist des Menschen, der träumt, ist vollauf zufrieden mit dem, was ihm zustößt. Die beängstigende Frage nach der Möglichkeit stellt sich hier nicht mehr… Und wenn du stirbst, hast du nicht die Gewissheit, zwischen den Toten wieder zu erwachen? Laß dich leiten, die Ereignisse dulden keinen Aufschub. Du hast keinen Namen. Die Leichtigkeit, mit der alles geschieht, ist ohne jedes Maß.

Wie kam es zu diesem Projekt?
Jeden Morgen beim Frühstück unterhielt ich mich mit meinem Liebsten: „Weißt du, was ich schon wieder für seltsame Dinge geträumt habe!?“ – Fast alle um mich herum bemerkten, dass ihre Träume viel ausschweifender waren als sonst. Für mich war es jedes Mal wie ein Kinobesuch, wenn ich meinen Kopf auf das Kissen legte. Ich träumte von Menschen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, von kritischen Situationen, aus der es keinen Ausweg gab, von wilden Tieren. Mein Liebster führte ein Tagebuch über unsere Zeit im Lockdown, also beschloss ich irgendwann, die Dinge zusammenzufügen und ein visuelles Schlaftagebuch anzufertigen.

Ihre Bilder sind in der Tat sehr verträumt und irgendwie beruhigend. Was möchten sie konkret ausdrücken?
Es ist schon bemerkenswert, wie mächtig unser Verstand ist. Als wir physisch nicht vor unsere Wohnung gehen konnten, begann der Verstand, ein Universum zu erschaffen, in welchem wir versuchten, die Situation, in der wir uns befanden, zu ergründen. Jetzt, wo sich die Situation etwas beruhigt hat, habe ich das Gefühl, dass dies eine Gelegenheit war, nach innen zu schauen und uns selbst, unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart wieder zu verbinden. Träume sind eine Darstellung der unendlichen Ressourcen unseres Geistes.

Welche Kamera haben Sie benutzt und wie war die Arbeit damit?
Ich verwendete eine Leica SL mit 50mm und 35mm Objektiven. Es fühlte sich umwerfend an, damit zu arbeiten! Der Body ist etwas schwer, aber die Farben und Texturen der Fotos sind unglaublich. Die Kamera reagierte perfekt auf alles, was ich tun wollte.

Welche Rolle spielen Kunstlicht und Nachbearbeitung in Ihrer Fotografie?
Ich liebe es, Licht vor Ort zu erzeugen. Es gibt mir die Chance, auf dem Foto präsent zu sein, die Atmosphäre völlig zu verändern und eine Art Paralleldimension in der Realität zu schaffen. Abgesehen vom Blitz lasse ich mich gerne vom natürlichen Licht leiten, von seiner Langsamkeit und der Art und Weise, wie man darauf warten muss; und auch liebe ich die Möglichkeiten, es zu stören, zu reflektieren, zu färben oder zu schattieren. Von der Nachbearbeitung mache ich selten Gebrauch – nur um bestimmte Dinge im Bild hervorzuheben, die bereits vorhanden sind.

Sie erlauben dem Betrachter einen Einblick in Ihren Geist, und ich nehme an, es ist gar nicht so einfach, visuell zu kombinieren, was Sie sehen und was Sie fühlen. Was würden Sie Menschen empfehlen, die selbst auf eine solche fotografische Reise gehen wollen?
Es braucht viel, um die Ereignisse und Bilder im Kopf zu verarbeiten. Normalerweise lasse ich mich von etwas Externem inspirieren, woraufhin ich versuche, eine Metapher zu finden, die es fotografisch darstellen kann. Es ist eine knifflige Kombination aus Weltoffenheit und Introspektivität. Man muss sich selbst und die Realität analysieren. Es ist nicht leicht, aber es ist ein ganz besonderes Gefühl, die Bilder vor sich zu sehen, die sonst nur im Kopf leben würden. Eine meiner Freundinnen erzählte mir beispielsweise, dass sie in ihrem Traum von einem Bienenschwarm gejagt wurde, also behielt ich das ein paar Wochen lang in meinem Kopf und fand dann plötzlich einen leeren Bienenstock in meinem Garten. Für ein anderes Foto musste ich lernen, wie man einen Tornado in einem Glas erschafft! Um etwas auszudrücken, muss man es manchmal neu erfinden.

Was steht für Sie an erster Stelle – die Idee, etwas von Ihrem inneren Selbst auszudrücken, oder eine interessante Szenerie?
Ich denke, die Idee steht an erster Stelle; oder besser gesagt, ein Input, der mich neugierig auf etwas macht. Bisher habe ich mich immer von etwas angetrieben gefühlt, das mich bewegt – oder von etwas, das ich nicht klar verstehe und auf das ich eine Antwort finden möchte. Das Nächste, was ich normalerweise tue, ist die Erforschung dieser Sache. Die Szenarien in Sleeping Pill entstammen meist aus den Träumen meiner Mitmenschen, aber auch aus Dingen, die mich in der Realität inspiriert haben.

Haben Sie Pläne oder Wünsche für zukünftige Projekte?
Auf jeden Fall! Im Moment arbeite ich an einem neuen Projekt über Emigranten, meist aristokratische russische Familien, die nach der Revolution von 1917 aus dem Kaiserreich flohen und sich jenseits seiner Grenzen niederließen. Aktuell bin ich dazu mit Familien in Italien in Kontakt, aber ich freue mich darauf, das Projekt auf den Rest Europas auszuweiten.

Alisa Martynova wurde 1994 in Orenburg, Russland, geboren. Nach Abschluss ihres Studiums der Ausländischen Philologie in ihrem Heimatland absolvierte sie 2019 ein dreijähriges Fotografie-Studium an der Fondazione Studio Marangoni in Florenz, Italien. Während ihres Studiums war sie als Assistentin für das Fotokollektiv Riverboom tätig. Im Jahr 2018 präsentierte sie ihre Arbeiten im Leica Store Florenz. Im Herbst 2019 wurde das Werk von Martynova am Eröffnungsabend von Les Rencontres d’Arles gezeigt. Zur gleichen Zeit stand sie auf der Liste der Finalisten für den Photolux-Preis 2019 und den PH Museum Women Photographers Grant. Martynova lebt und arbeitet derzeit in Florenz, Italien. Erfahren Sie mehr über ihre Arbeit auf ihrer Instagram-Page und Webseite.