Chris Suspect, der eine Zeit lang in Russland aufgewachsen ist, kennt die jüngere rumänische Geschichte und wollte sich ein Bild von der aktuellen Lebenseinstellung und den Überbleibseln des Kommunismus machen. Sein fotografischer Ansatz, eine Kombination aus Street Photography und Konzeptkunst, war für ihn neu. Suspect hat seine Serie Old Customs als Buch veröffentlicht. Es präsentiert seine Beobachtungen, die er am Strand einer Ortschaft gemacht hat, die selbst schon eine ganz besondere Ausstrahlung hat.

Lassen Sie uns über Ihre Serie Old Customs sprechen, aus der auch ein Buch entstanden ist. Was war der Anlass für Ihren Besuch in Vama Veche?
Ich war dort 2017 als Dozent und Workshop-Leiter Gast von VSLO, einem Festival für Fotografie und visuelle Kunst. Da ich die Geschichte Rumäniens kenne und weiß, wie 1989 der Kommunismus fiel, war ich neugierig auf die erste Generation von Rumänen, die nicht mehr persönlich erfahren hat, wie es war, unter der Herrschaft des kommunistischen Staats von Nicolae Ceaușescu zu leben. Diese Neugier entspringt meiner persönlichen Erfahrung, die ich Ende der 70er-Jahre, während der Regierungszeit von Leonid Breschnew, in Moskau gemacht habe. Ich erinnere mich, wie dunkel, trostlos und elend es für mich als junger Mensch in dieser Zeit war. Von dieser politischen Ideologie trennt uns nur eine Generation –das hat mich interessiert und ich beschloss, diese Ideen fotografisch zu erforschen.

Mit welcher Ausrüstung haben Sie gearbeitet?
Mit einer Leica M-P (Typ 240) und einem 35er-Zeiss-Biogon. Und das war’s auch schon.

Und die Serie entstand in Vama Veche?
Ja, ich habe alle Bilder in Vama Veche aufgenommen, einem abgelegenen Dorf am Strand des Schwarzen Meers im äußersten Südosten an der Grenze zu Bulgarien. Auf Englisch bedeutet Vama Veche „old customs“. Türken haben die Siedlung 1811 gegründet. In den 1960er-Jahren wurde sie als eine Oase der Freiheit fernab der neugierigen Augen von Ceaușescu berühmt. Dichter und Schriftsteller lebten unter den Fischern und Vama Veche wurde zu einer Kolonie von Intellektuellen, die in Zelten wohnten oder Zimmer von den Einheimischen mieteten. Seit dieser Zeit ist Vama Veche als alternatives Reiseziel bekannt. Es gibt dort kaum Hotels und viele Besucher zelten im Umland – Erinnerungen an Woodstock und die Zeit der Hippies werden wach.

Sie arbeiten sehr schnell und intuitiv. Sie verwenden gern Reflexionen, Rauch und Schatten. Wie sind Sie an dieses Projekt herangegangen? Haben Sie anders als sonst gearbeitet?
Meistens arbeite ich schnell und intuitiv und suche nach Gegensätzen, Gesten, Geometrie, Humor und dergleichen mehr. Aber bei Old Customs war es etwas anders. Auch dort habe ich intuitiv gearbeitet, doch es gibt auch konzeptuelle, geplante Aufnahmen. Es ist eine Art Kreuzung von Street Photography und bildender Kunst. Ich habe viele Bilder aus ganz bestimmten Gründen aufgenommen, und das war neu für mich.

Im Buch gibt es einige Aufnahmen mit Spiegeln. Wie kam es dazu?
Das war eine interessante Entwicklung in meinem Prozess. Nachdem ich das Lied I’ll Be Your Mirror von Velvet Underground im Küchen-Radio gehört hatte, dachte ich über die bekannte Idee nach, dass das Foto der Spiegel des Fotografen sei. Ich fragte mich, wie ich diese Idee umkehren könnte, indem ich den Leuten einen Spiegel vor den Kopf halte. Ich fertigte eine Maske an, eine Schutzbrille, auf die ich einen runden Spiegel klebte, und machte mich auf nach Vama Veche. Spiegel können ganz verschieden interpretiert werden; historisch betrachtet wurden sie in Kunst und Literatur verwendet, um Vorstellungen von Wahrheit, Entdeckung, Weisheit, Wahrnehmung, Bewusstem und Unbewusstem zu symbolisieren. Als ich zum Beispiel entdeckte, dass ich mit dem Spiegel einen Sonnenstrahl einfangen kann, war ich von der Idee begeistert, dass ich Menschen zu Göttinnen und Göttern erheben kann. Die Aufnahmen sahen erstaunlich aus und erinnerten mich ein wenig an die Ikonografie alter kommunistischer Propagandaplakate.

Warum haben Sie Old Customs in Farbe aufgenommen?
Die meisten kennen meine Arbeiten in Schwarzweiß, weil ich die häufiger veröffentlicht habe. Aber tatsächlich fotografiere ich immer auch in Farbe. Meistens tagsüber, weil ich Farben besser sehen kann, wenn es hell ist. In diesen Aufnahmen beschäftige ich mich intensiv mit der Rolle der Farbe, meine Farbbilder sind viel überlegter und bewusster. Nachts kann ich Farben nicht so gut sehen und denke deshalb eher in Schwarzweiß. Das führt zu einer anderen Art von Fotos. Nachts versuche ich bloße Emotion, Gesten und Energie einzufangen, und gehe gern nah heran. In Vama Veche habe ich hauptsächlich tagsüber und bei Sonnenauf- und -untergang fotografiert – daher die Farbe. Zudem können die Farben der Landschaften an der Schwarzmeerküste atemberaubend sein.

Was wollten Sie mit Old Customs darstellen?
Für mich bestand die Herausforderung darin, die Erfahrungen, die ich in meiner Jugend im kommunistischen Russland gemacht hatte, in Fotografien auszudrücken und sie dem gegenüberzustellen, was ich bei den jungen Leuten sah, die ich in Vama Veche traf. Das tat ich, indem ich mich auf mit der Geschichte verbundene Ideen von Freiheit und Jugend konzentrierte. Ich bezog mich auf die rumänische Mythologie und die Propaganda der Sowjet-Ära und hielt Zeugnisse westlicher Kultur und Kommerzialisierung fest. Das Konzept von Freiheit und Jugend präsentiere ich durch Street Photography, konzeptuelle Ideen und Aktaufnahmen, aneinandergereiht im Stil eines modernen Märchens voller Schönheit, Mysterium, Mythos und Magie.

Was wünschen Sie sich für diese junge Generation in Rumänien und ihre Zukunft?
Nur das Beste. Es ist eine sehr aufgeweckte, gut ausgebildete und intelligente Generation.

Chris Suspect wurde 1968 auf den Philippinen geboren. Der Street- und Dokumentarfotograf lebt in der Nähe von Washington, D.C. Seine international anerkannten Arbeiten wurden in Belgien, Deutschland, Italien, Rumänien, Georgien, Großbritannien, den USA und den VAR ausgestellt. Seine dokumentarische Arbeit über die Underground-Musikszene in Washington, D.C., hat Empty Stretch 2014 als Buch Suspect Device veröffentlicht. Suspect Device wurde 2014 in der Leica Galerie auf der Photokina 2014 in Köln gezeigt und war 2015 eine der Hauptausstellungen beim Kolga Tblisi Photo Festival (Georgien). Die Ausstellung befindet sich derzeit im Archiv der Leica Galerie. Über Chris Suspects Fotografie erfahren Sie mehr auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal .