In letzter Zeit hat sich die russische Fotografin Anisia Kuzmina auf Porträts konzentriert. Ausgestattet mit einer Leica M10-R möchte sie sich nicht nur oberflächlich mit ihren Protagonisten auseinandersetzen. Sie interessiert sich nicht für Schauspieler oder Models, was sie am meisten fasziniert sind ganz normale Menschen ohne Erfahrung vor der Kamera. Die Fotosessions geben oft Anlass zu Gesprächen über Themen wie Selbstwert und Identität.

Sie sagen, Sie fühlen sich der analogen Fotografie verbunden. Welche Künstler oder Fotografen beeindrucken Sie am meisten?
Mich motiviert die Möglichkeit, eine Idee und ihre Komposition sorgfältig zu bedenken und dabei im Hinterkopf zu haben, dass mir nur eine begrenzte Anzahl von Aufnahmen zur Verfügung steht. Bei den Künstlern, die mich am meisten beeindrucken, denke ich an Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Arnold Newman, Elliot Erwitt und Richard Avedon.

Wo liegen Ihrer Meinung nach die Grenzen der Fotografie, etwa im Vergleich zum Film? Gibt es überhaupt welche?
Gibt es wirklich Grenzen und brauchen wir sie überhaupt? Mir scheint, dass ihre Bedeutung in der modernen Welt langsam verblasst. Ich beobachte gern Menschen dabei, wie sie arbeiten und ihre täglichen Rituale durchlaufen. Das inspiriert mich und hilft mir, eine neue Perspektive für mein eigenes Leben zu gewinnen.

Was ist Ihre größte Herausforderung beim Fotografieren?
Seit fünf Jahren fotografiere ich Menschen, die keinen Hintergrund als Model oder Erfahrung vor der Kamera haben. Manchmal ist das sehr anstrengend, weil sie persönliche Dinge berichten, etwa, dass sie sich selbst nicht akzeptieren. Darauf muss man mit Überlegung eingehen, um ihnen die Energie zu vermitteln, die ihnen hilft, ihr Problem zu bewältigen. Ich muss wissen, dass meine Arbeit eine Wirkung auf jemanden hatte und ihn dazu gebracht hat, über Dinge nachzudenken, die wichtig sind. Die wichtigste Regel bei meiner Arbeit und meinen kreativen Projekten ist, ehrlich zu mir selbst zu sein und nur Projekte zu übernehmen, die mich wirklich begeistern und herausfordern.

Was hat Sie dazu bewogen, mit der Fotografie zu beginnen?
Es tat weh zu sehen, wie meine Lieben alterten und starben. Die Fotografie erlaubte mir, die Zeit anzuhalten, den Moment festzuhalten und ihn nie verblassen zu lassen. Ich wollte mich an all die Falten, Augen, Hände und Lächeln erinnern, die sonst vielleicht eines Tages verschwinden. Als ich ein Teenager war, träumte ich davon, als anderer Mensch geboren zu werden. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Selbst und war immer unsicher bei allem, was ich tat. Die Fotografie half mir, mich der Welt zu öffnen und die Schönheit in mir zu entdecken. Das war wahrscheinlich der Grund dafür, dass ich anfing, Porträts zu fotografieren. Ich wollte die Möglichkeit haben, jederzeit zu den Menschen zurückzukehren, die ich liebe. Die Porträts waren ein langer Weg, mich selbst durch Menschen zu verstehen, die mir vertrauen, und eine großartige Gelegenheit, Zeit und Leben zu beobachten und zu dokumentieren.

Was macht in Ihren Augen ein gutes Porträt aus?
Mir scheint, dass die besten Porträts entstehen, wenn Menschen jegliche Erwartungen fallenlassen, sich entspannen und sich von mir in diesem Moment aufnehmen lassen.

Wann haben Sie an dieser Porträtserie gearbeitet und was war Ihre Absicht?
Vor einem Jahr kämpfte ich um meine psychische Gesundheit und es fiel mir schwer, Freude an täglichen Routinen zu finden. Irgendwann wurde mir klar, dass es manchmal ausreicht, dass eine andere Person glücklich ist, um sich selbst mit Freude zu erfüllen. In dieser Serie geht es um das Glück derer, die mich Beobachter und Teilhaber dieser glücklichen Momente sein ließen. Sie zeigten mir ihre liebsten Straßen, Felder und Menschen, ihre geheimen Plätze und Rituale. Ich folgte ihnen mit der Leica M10-R und hielt wichtige Momente und persönliche Einsichten fest.

Wo und wann haben Sie die Bilder aufgenommen?
Ich bin mit einer vertrauten Person nach St. Petersburg gefahren, nur für dieses Shooting. Diese Stadt hat einen besonderen Platz in meinem Herzen. Ich wusste, dass ich dort die Geschichten finden würde, die ich für die Serie brauche.

Wie kamen Sie mit den Menschen in Kontakt? Sind Sie eine offene Person oder eher schüchtern?
Ich denke, dass jeder offener sein möchte, aber wir alle haben diese Momente, in denen wir uns einfach nicht danach fühlen. Ehrlich zu sein und mir selbst und anderen Menschen zuhören zu können, hilft mir, einen Weg zu finden, auf dem wir uns verständigen können.

Sie haben für dieses Projekt die Leica M10-R verwendet. Mit welchem Objektiv haben Sie gearbeitet und was gefällt Ihnen daran?
Ich habe die ganze Serie mit dem Summilux-M 1:1.4 35 ASPH. fotografiert. Ich verwende es seit sechs Jahren an allen Kameras, mit denen ich arbeite. Für mich ist es das angenehmste Objektiv, denn es erlaubt mir, meine Ideen genauso zu umsetzen, wie ich es mir vorstelle.

Wie unterscheiden sich die mit der Leica M10-R aufgenommenen Bilder von Ihren früheren Aufnahmen?
Ich war zuvor noch nie in der Lage, Farben und Halbtöne digital so zu erfassen, wie ich sie mit meinen Augen sehe.

Warum haben Sie bei dieser Serie Farbe gegenüber Schwarzweiß den Vorzug gegeben?
Offen gestanden, wusste ich nicht, dass ich eine Wahl hatte, denn die M10-R hat eine Farbmatrix, und die bestimmt in gewisser Weise die Regeln für die Arbeit mit der Kamera – so, als befände sich ein Farbfilm im Magazin.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie Sie Ihre visuelle Sprache in Zukunft entwickeln wollen?
Ich versuche, auf meine innere Stimme zu hören und darauf zu achten, woran ich ein echtes Interesse habe.

Möchten Sie hier über zukünftige Projekte sprechen?
Anfang 2020 habe ich metod.photo gegründet, eine geschlossene Community für Fotografen. Diesem Projekt widme ich einen großen Teil meiner Zeit. Wir planen, die persönlichen Projekte der Mitglieder einmal im Jahr in unserem eigenen Fotobuch zu veröffentlichen.

1993 in Moskau geboren, lebte und lernte Anisia Kuzmina als Teenager zunächst in Ägypten. Mit 13 begann sie als Matrosin auf einer Jacht zu arbeiten und fotografierte für Touristen mit Einwegkameras Unterwasseraufnahmen. Mit 15 kehrte sie nach Russland zurück, wo sie sich an einer Theaterschule einschrieb und beschloss, weiterhin auf der Bühne zu arbeiten. Sie arbeitete als Video-Redakteurin und Regieassistentin beim Fernsehen, bevor sie Technische Fotografie und Kunst an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften studierte. In den letzten fünf Jahren arbeitete Kuzmina an persönlichen Projekten, darunter eine Ausstellung im Moskauer Museum für Moderne Kunst, MMOMA, und war für „Esquire“, „Harper’s Bazaar“ und zahlreiche russische Zeitschriften und Medien tätig. Sie arbeitete mit anderen Künstlern zusammen und gründete 2020 Metod.photo, ein Fotografenkollektiv, das den Fokus der Fotobranche von kommerziellen Aufnahmen weg hin zu persönlichen künstlerischen Projekten verlagern möchte. Erfahren Sie mehr über Anisia Kuzminas Fotografie auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal.