Am 16. September 2020 unterhielten sich die Leica Fotografin Franziska Stünkel und der renommierte Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink aus Anlass der Coexist-Präsentation der Fotografin in der Leica Galerie Wetzlar über das Projekt. Moderiert von Karin Rehn-Kaufmann, entwickelte sich ein spannendes Gespräch über Bilder, die Fantasie, die unterschiedlichen Sichtweisen von Autor und Fotografin und wie es gelingt, Geschichten zu finden. Pandemiebedingt waren nur wenige Zuhörer live dabei, nun ist das Gespräch hier noch einmal anzusehen.

Auch für die Fotografin Franziska Stünkel war 2020 ein besonderes Jahr. Im Interview berichtet sie über ihre Erfahrungen und die Serie Coexist.

Das Jahr 2020 war trotz aller Einschränkungen ein sehr erfolgreiches Jahr für Sie: Das Buch – Anfang 2020 erschienen – wurde vielfach vorgestellt, die begleitenden Ausstellungen in Hannover, Berlin und Wetzlar haben das Coexist-Projekt weiter in die Öffentlichkeit gebracht, das Sprengel Museum Hannover hat acht Fotowerke von Ihnen in seine Sammlung übernommen und auch Ihr neuer Film wird gerade fertig. Nur: Alles war in diesem Jahr anders – die Ausstellungen fielen im landesweiten Lockdown in einen Dornröschenschlaf, Ihre Fotobuchvorstellung auf der Paris Photo in New York konnte im Mai nicht stattfinden, die Filmproduktion war enorm erschwert und an Reisen war kaum zu denken. Was vermissen Sie derzeit am meisten und mit welchen Hoffnungen blicken Sie in die Zukunft?
Die Nähe zu Menschen, Begegnungen und Berührungen vermisse ich besonders. Das Corona-Virus hat viel gesundheitliches und persönliches Leid auf der Welt verursacht. Ich hoffe sehr, dass die Impfung wirkt und die Pandemie abebbt. Ich hoffe, dass die ohnehin schon unerträglich große Kluft zwischen Armut und Reichtum nicht noch größer wird. Corona ist ein Brennglas. Gesundheitssysteme, Lebensräume von Wildtieren, Massentierhaltung – es gibt viel, das längst hätte in den Fokus rücken müssen. Ich hoffe deshalb, dass wir nicht einfach zu einer rauschhaften Konsumgesellschaft mit oberflächlichen Befriedigungen und teils blindem Wachstumsdrang zurückkehren, sondern viel aus dieser Zeit mitnehmen und auch andere globale Probleme gemeinsam anpacken, um das zu bewahren, was wirklich wichtig ist: Unser friedliches Miteinander und den Schutz unseres Planeten. So wie Corona kann man auch die Klimakrise, die Flüchtlingsbewegungen, den Welthunger, die Kriege nicht geographisch begrenzt betrachten, weder in seinem Ursprung, noch in seinen Auswirkungen, noch bei der Hilfe und der Suche nach den richtigen Lösungen. Ich würde mir wünschen, dass wir diese großen Herausforderungen zusammen genau so entschlossen anpacken. Darin steckt die wunderbare Erfahrung des Miteinanders, die sehr viel bewirken kann.

Das Thema des Miteinanderlebens begleitet Sie seit über zehn Jahren in der Serie Coexist. Beim Fotografieren auf der ganzen Welt sind Sie mit Ihrer Leica M immer allein unterwegs – eine bewusste Entscheidung und ein Kontrapunkt zum intensiven Teamwork bei Filmproduktionen. Welche Erfahrungen sind für Sie die prägendsten?
Es ist die Unmittelbarkeit des Erlebens, wenn ich mit meiner Kamera ganz allein in einem mir noch unbekannten Land unterwegs bin. Das ist in der Ferne besonders intensiv. Wäre jemand an meiner Seite, gebe es automatisch einen sofortigen Austausch, eine gemeinsame Einordnung. Das Alleinsein hilft mir dabei nicht vorschnell zu bewerten, sondern zunächst einmal nur wahrzunehmen. Es ist wichtig vorurteilsfrei zu sein, nur dann kann echtes Einlassen stattfinden. Und Fotografieren bedeutet Einlassen. Ich bin aufmerksamer, wenn ich allein unterwegs bin. Ich begegne mir unbekannten Kulturen, Menschen. Im Sucher der Kamera möchte ich die Essenz dessen erspüren. Ich kann nur fotografieren, wenn ich mich zu tausend Prozent in diesen Prozess hineinbegebe. Das ist wie ein Sog. Ich laufe mit meiner Kamera kilometerweit durch Hitze oder Kälte, komme öfter einmal an meine Grenzen in der Ferne, muss mich auch meinen Ängsten stellen. Wenn ich mich anfangs auf meinen Reisen einsam gefühlt habe, half mir die Entdeckung, dass wir nie allein sind. Wir stehen alle miteinander in Verbindung. So wie ich dieser Tatsache als Thema in meinen Fotografien nachspüre, so sehr habe ich es durch meine Reisen auch erfahren und verinnerlicht.

Sie arbeiten immer an Langzeitprojekten. Sehnen Sie sich manchmal auch nach Projekten, die sofort und schnell umgesetzt werden können?
Nein. Gerade in unserer digitalen Zeit stecken Internet und soziale Netzwerke ja voller Schnappschüsse oder aber zeigen Bilder voller Perfektion und geplanter Attitüde. Diese Bilder werden in einem unglaublichen hohen Tempo, zum Teil im Bruchteil einer Sekunde, konsumiert. Ich sehne mich danach komplexe Bildinhalte zu erschaffen, die authentisch sind und echtes Einlassen einfordern. Das Bedürfnis mich deshalb über Jahre einem Inhalt zu widmen, um in das Thema auch wirklich vorzudringen, wird daher eher immer größer. Erst unter der Oberfläche wird es ja spannend. Das benötigt Zeit.

Wie geht es mit Ihrem Fotografie-Projekt weiter?
Für uns Künstler ist es eine sehr harte Zeit, in der wir unseren Beruf nicht ausüben können – finanziell, aber auch darüber hinaus. Projekte sind unterbrochen. Meine Fotoserie steht still. Ich kann sie erst wieder fortsetzen, wenn man wieder reisen kann. Ich sehne mich natürlich sehr danach, aber möchte mit dem Verzicht auf das Reisen auch meinen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie leisten.

Wird die Pandemie-Erfahrung auch in Ihre Arbeit einfließen?
Auf jeden Fall, ja. Aber indirekt. Diese Pandemie-Erfahrung ist extrem stark und extrem komplex. Sie findet auf nahezu allen Ebenen statt – körperlich, emotional, existenziell, gesellschaftlich, kulturell, politisch, wissenschaftlich, medial, lokal, global. Und wir sind noch mittendrin. Ich spüre trotz der Komplexität und den Errungenschaften der Digitalisierung, dass der Kern das direkte Miteinander ist, das ich sehr vermisse und welches ja das Wesen des Lebens ausmacht. Daher hat meine Fotoserie Coexist für mich an Bedeutung zugenommen.

Biografien:

Die Fotokünstlerin und Filmregisseurin Franziska Stünkel wurde 1973 in Göttingen geboren. Ihre fotografischen Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet; ihre Filme waren in 19 Ländern und bei mehr als 100 internationalen Filmfestivals zu sehen und wurden ebenfalls vielfach prämiert. In ihren Kinospielfilmen beschäftigt sich Stünkel mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Die seit zehn Jahren verfolgte fotografische Serie Coexist zeigt ihre weltumspannende Suche nach friedlicher Koexistenz. In dem im Kehrer Verlag erschienen großformatigen Bildband hat die Künstlerin vierzehn Autoren aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen eingeladen, ihre jeweilige Sicht auf das Thema der Koexistenz zu schildern. Erfahren Sie mehr über Franziska Stünckel auf Ihrer Website www.franziskastuenkel.de

Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink, 1944 geboren, hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche, vielbeachtete Romane veröffentlicht; „Der Vorleser“, 1995 erschienen, ist dabei sein erfolgreichster internationaler Bestseller. 2020 erschien mit „Abschiedsfarben“ sein jüngster Band mit neun Geschichten, in der sich die Protagonisten auf ganz unterschiedliche Weise mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.

 

Die Leica Galerie Wetzlar befindet sich im Leitz-Park, einem einzigartigen Erlebnis- und Inspirationsort, der die Markenwelt und die Faszination der Leica Fotografie mit allen Facetten für Leica Enthusiasten, Fotografiebegeisterte und Gäste aus aller Welt erlebbar macht.

Es erwarten Sie inspirierende und hochkarätige Ausstellungen, einmalige Einblicke in die Manufaktur und Unternehmensgeschichte, Events, Führungen, Fotoworkshops, kulinarische Köstlichkeiten und vieles mehr.