Was hat Sie nach Sansibar geführt?
Eine tiefe Leidenschaft für das Reisen und den Kontinent Afrika. Ich hatte zuvor einige Zeit am Golf von Guinea verbracht, wo ich an mehreren dokumentarischen Projekten über Jugendliche in Ghana gearbeitet habe. Nachdem ich einen Teil des afrikanischen Westens gesehen hatte, wollte ich unbedingt auch die andere Seite des Kontinents entdecken. Inseln haben mich schon immer angezogen – Sansibar, bereits der Name klingt geheimnisvoll. Ich finde, dass das Verhältnis von Inselbewohnern zu ihrer Umwelt und zum Thema Zeit generell entspannter und friedlicher ist als das einer Festlandbevölkerung. Als ob die Abgeschiedenheit ein Gefühl relativer Leichtigkeit mit sich brächte. Ich machte mich ein wenig über die außerordentlich reiche Swahili-Kultur Sansibars schlau, knüpfte ein paar Kontakte und machte mich mit diesem großartigen Aufregung, die man verspürt, wenn man sich an einen unbekannten Ort begibt, auf den Weg.

Was zeichnet die Swahili-Kultur für Sie aus?
Sansibar ist ein faszinierender Ort, an dem sich Jahrtausende lang indische, nahöstliche und afrikanische Traditionen vermischt haben. Vom Leben einer Gesellschaft mit einer so vielfältigen und komplexen Geschichte fühlte ich mich angezogen. Arabische, indische, persische und Bantu-Einflüsse: Wie konnten so viele Gemeinschaften, Religionen und Kulturen miteinander verwoben werden, um eins zu werden? Nach zwei Reisen habe ich das Gefühl, dass ich mich immer noch in der „Beobachtungsphase“ befinde. Meine Reisen sind nicht durchgeplant, ich muss vor Ort sein, mit den Menschen sprechen, mich an den natürlichen Kalender der Insel anpassen (Regenzeit, handwerkliche Tätigkeiten, Erntesaison, Feste etc.) und mich weiterhin mit der Swahili-Kultur und ihrem Erbe beschäftigen.

Über welche Tales of a Swahili Land berichten Ihre Bilder?
Auch wenn die Bilder eine Serie bilden, liebe ich den Gedanken, dass jedes einzelne für eine individuelle „Geschichte“ steht – daher der Titel. Außerdem bin ich, wo ich auch sein mag, sehr an der Beziehung zwischen Tradition und Moderne, Volkskultur und dem noblen Charakter körperlicher Arbeit interessiert. Die Zeit prägt die Menschen, die mit ihren Händen und ihrem Körper arbeiten, auf eine besondere Art und Weise. Das kann hart und gleichzeitig sehr schön sein. Mit einem Porträt kann man diese Menschen ehren und ihr Wissen über ihr oft verschwindendes Handwerk würdigen.

Was ist Ihnen bei der Porträtfotografie wichtig?
Emotion. Ich wollte die einzelnen Personen so porträtieren, wie sie sind, mit so wenig Veränderung oder Inszenierung wie möglich. Mein Ziel war es, das einzufangen, was mich zuerst an der Haltung und dem Ausdruck der jeweiligen Person fasziniert hat. „Echte“ Menschen zu porträtieren, im Gegensatz zu Menschen, die es gewohnt sind, vor einer Kamera zu posieren, ist spannend und hat etwas.

Wie haben Sie sich den Menschen genähert?
Zunächst mit ein paar Worten auf Swahili. Ich habe gefragt, ob ich ein Porträt machen dürfe, und dann versucht, mich unsichtbar zu machen. Oder mit der Hilfe von Freunden und Bekannten. In den entlegensten Teilen der Insel, wo Englisch keine Option ist, war ich mit einem Guide unterwegs.

Ihre Serie enthält sowohl Schwarzweiß- als auch Farbbilder. Nach welchen Kriterien haben Sie das entschieden?
Das hing jeweils von der Szene oder dem Motiv ab.

Wie hat sich Ihre Kamera bewährt?
Ich hatte meine gewohnte Ausrüstung, eine Leica M-P (Typ 240) mit 35er- und 90er-Summicron, dabei. Elektronische Ausrüstung und tropisches Klima passen normalerweise nicht so gut zusammen; aber nach monatelanger Feuchtigkeit im Dschungel von Sri Lanka, wo ich Palmweinsammler fotografiert hatte, und der feuchten, salzig aufgeladenen Hitze am Golf von Guinea, auf den Straßen von Accra, wo ich jungen ghanaischen Boxern gefolgt war, war mein gut gepflegtes System für die ostafrikanische Küste bestens gerüstet. Es erlaubte mir, ruhig, leicht und schnell eine Vielzahl von Situationen einzufangen.

Welchen Einfluss hat Ihre Reise heute auf Sie?
Nach zwei einmonatigen Besuchen auf der Insel war für mich klar, dass ich die Beziehung zu den Menschen, die ich getroffen hatte und von denen einige Freunde geworden sind, aufrechterhalten und ausbauen möchte. Ich werde also meine Besuche regelmäßig fortsetzen. Ich weiß jetzt, dass das Projekt langfristig angelegt ist und vielleicht für immer weitergeht. Es zielt einfach darauf ab, die Schönheit des Lebens in dieser Ecke unseres Planeten zu zeigen. Und das ist in Ordnung. Mir geht es nicht um das Gefühl, etwas vollendet zu haben. Die Belohnung liegt im Akt des Fotografierens selbst und später zu Hause beim Printen der Bilder. Und, ein Einfluss auf einer ganzen anderen Ebene: Ich esse jetzt dreimal so viele frische Früchte wie zuvor.

Was haben Sie in Sansibar gefunden, das Sie anderswo nicht finden können?
Einen Zustand herrlicher Leichtigkeit, der Leichtigkeit des Flaneurs, die Freude am Miteinander, das die sozialen Beziehungen in kleinen Gemeinschaften vertieft, und die beste Urojo – eine in Tansania/Sansibar sehr beliebte Suppe.

Der französische Dokumentar- und Porträtfotograf Antoine Jonquière lebt in Marseille. Ihn interessieren recherchegeleitete, selbst initiierte Projekte, oft untersucht er die Beziehung zwischen Tradition und Moderne in den Ländern und Kulturen, die er besucht. Er hat tamilische Palmweinsammler im Norden Sri Lankas und junge Boxer in Accra, Ghana, dokumentiert und arbeitet derzeit an einer Dokumentation über die Identität der Swahili auf Sansibar, Tansania. Seine Arbeiten sind unter anderem in Geo, Photo Vogue, Suitcase und Gestalten erschienen. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Antoine Jonquière auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

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