Die Ortschaften in den Bergen der russischen Kaukasusrepublik Dagestan verbanden früher keine Straßen: Die Einheimischen nutzten Seile, um trennende Schluchten zu überwinden. Heutzutage gibt es nur noch wenige, die diese waghalsige Kunstform beherrschen. Johanna-Maria Fritz hat sich mit der Leica M10 auf die Suche nach den Ursprüngen des Seiltanzes gemacht.
Was hat Sie nach Dagestan im Nordkaukasus verschlagen, eine Region von der vermutlich viele Menschen noch nie etwas gehört haben?
Für meine Zirkus-Serie Like a Bird bin ich in den Senegal, nach Palästina, Iran, Afghanistan und nach Indonesien gereist. Auf jedem Trip habe ich in den verschiedenen Ländern andere Zirkusse kennengelernt. Dann reiste ich für einen anderen Auftrag nach Tschetschenien und recherchierte dort auch über Zirkusse im Kaukasus. So erfuhr ich von den Seiltänzern in Dagestan. Ich bin einen Monat lang durch die ganze Republik gereist.
Früher haben die Einheimischen Seile verwendet, um von einem Dorf zum anderen zu gelangen, weil es früher in den Bergen Dagestans keine Straßen gab. Wo wird das heute noch praktiziert?
Ja, so war es früher; aber jetzt ist die Kunstform praktisch vergessen. Es gibt nur noch wenige, die das Seiltanzen beherrschen und auch unterrichten. Meist sind es Kinder und Jugendliche, die es als Hobby lernen und damit auf Hochzeiten oder bei kulturellen Veranstaltungen auftreten. Im Süden jedoch begegnete ich einer Familie, für die die Seile die Haupteinnahmequelle darstellen. Sie ziehen durch die Dörfer und treten auf. Ein Familienmitglied geht herum und sammelt das Geld ein.
Wie haben die Leute auf die Begleitung einer Fotografin reagiert?
Alle wollten, dass ich ihren Auftritt sehe, und deshalb durfte ich einige Tage lang mit ihnen reisen.
In ihren beeindruckenden Bildern ist viel Armut zu sehen, dennoch stellen sie die Menschen nicht zur Schau. Wie haben Sie das geschafft?
Ich habe viel Zeit mit ihnen verbracht. Ich war geduldig, und ich habe beobachtet.
Ihre Bilder offenbaren ein gutes Gespür für Farbkompositionen. In dem Moment, in dem man diese blassen, fast pastelligen Farben sieht, neigt man dazu, sie mit Osteuropa zu assoziieren. Was spricht Sie an dieser Region so an?
Für mich sind das Licht und die Farben an jedem Ort und in jeder Region anders. In Dagestan habe ich gerade wegen der pastelligen Farbgebung so gern fotografiert.
Mit welcher Kamera und welchen Objektiven haben Sie gearbeitet?
Ich habe unter anderem eine Leica M10 mit 35- und 50-mm-Objektiven verwendet.
Was macht Ihrer Meinung nach ein Foto perfekt?
Das ist schwer zu sagen. Ich weiß gar nicht, ob es das perfekte Foto überhaupt gibt. Und vielleicht ist das unvollkommene ja sogar das bessere.
Welche Eigenschaften sollte ein Fotograf Ihrer Meinung nach haben?
Es ist wichtig, ein Gefühl dafür zu haben, wann der richtige Moment ist, um ein Foto zu machen und wann nicht. Man muss Respekt und Verständnis gegenüber seinen Protagonisten zeigen. Man sollte auch akzeptierend sein und natürlich die Fähigkeit besitzen, sich zu engagieren.
Haben Sie in der Fotografie oder in der bildenden Kunst Vorbilder?
Ja, ich liebe die Arbeiten von Evgenia Arbugaeva, Emile Ducke, Giulia Frigerio, Sonia Hamad, Philip Montgomery und Charlotte Schmitz.
Wovon lassen Sie sich inspirieren?
Mich inspirieren all die mutigen Frauen, die ich überall in der Welt getroffen habe.
Bitte vervollständigen Sie diesen Satz: Für mich ist die Fotografie …
… eine Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, die mit Worten nicht erzählt werden können.
Gemeldet ist Johanna-Maria Fritz in Berlin, tatsächlich aber ist sie das ganze Jahr über auf Reisen. Sie hat Fotografie an der Ostkreuzschule studiert und ist seit Anfang 2019 Mitglied der gleichnamigen Agentur. Ihre Arbeiten erschienen u.a. im „Spiegel“, in der „Zeit“, „National Geographic“ und „Newsweek China“. Fritz wurde mit dem Inge-Morath-Preis, dem Lotto Brandenburg Kunstpreis Fotografie und dem Stipendium der VG Bild ausgezeichnet. Ihre Bilder sind in vielen Ländern ausgestellt worden – in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Australien, China und den USA. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Johanna-Maria Fritz auf ihrer Website und Instagram-Kanal.
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