In allem steckt etwas Schönes, findet der Fotograf Jo Fischer, wenn man denn in der Lage ist, es zu sehen. Seine Serie aus Daaden erzählt sensibel, poetisch und berührend über das Gewöhnliche, das uns umgibt. Indem der Fotograf die einfachen Dinge des Alltags sichtbar macht, verleiht er ihnen, jenseits aller möglichen Skurrilität, Bedeutung.

Was hat Sie nach Daaden geführt?
Daaden ist eine Kleinstadt in Hessen. Mein Wagen war dort in einer Werkstatt. Ursprünglich sollte die Reparatur zwei Tage dauern, es wurden sechs und ich war in diesem Ort gefangen. Im Hotel war ich der einzige Gast. Im Frühstücksraum wurde ich mit Schlagern beschallt, inklusive Wurstplatte und Brötchen vom Vortag. Ich habe das Frühstück stehengelassen, habe mir die Kamera gegriffen und bin losgelaufen. Da der Ort überhaupt nichts zu bieten hat, was meinen Interessen in irgendeiner Form entspricht, habe ich genau das fotografiert.

Das, was Sie als Bonjour Tristesse bezeichnen?
Ja, die Wendung habe ich irgendwo mal aufgeschnappt und sie passt zu meiner kleinen Serie. Wenn man Tristesse hört, denkt man meistens auch an etwas Trauriges, vielleicht Regnerisches, Graues, Ödes, Trostloses. Da ich mich schon seit einiger Zeit mit diesem Thema auseinandersetze, habe ich einen neuen Blick dafür entwickelt. Tristesse ist in meinen Augen die Gewöhnlichkeit, mit der ich in meiner Heimat konfrontiert werde.

Wie haben Sie Ihre Motive „entdeckt“?
Ich saß morgens im Hotel und betrachtete das traurige Frühstück, die standardisierte Einrichtung und lauschte Roland Kaisers „Santa Maria“. In diesem Moment fühlte ich mich total alleine und auch etwas hilflos, zurückversetzt in die 1980er-Jahre. Ich ging auf mein Zimmer, ein Besen lehnte im Treppenhaus an der Wand, es sah aus wie eine Installation. Das war auch das erste, was ich fotografiert habe. Im Zimmer selbst habe ich das Grauen bei Tageslicht plötzlich als etwas gesehen, vor dem ich zuvor schreiend weggerannt wäre: Den Röhrenfernseher und die Gardine. Mir wurde klar, dass ich ein Teil des Ganzen bin, ein Mitglied einer Gemeinschaft, in der ich sozialisiert wurde. Mit diesem Gedanken gestärkt, trat ich vor die Tür des Hotels und betrachtete auf einmal alles als eine eigens für mich aufgebaute Kulisse.

Auf Ihren Fotos ist kein einziger Mensch zu sehen.
Als ich in Daaden festsaß, kam ich mir vor wie Sean Penn in „U-Turn – Kein Weg zurück“. Tatsächlich bin ich nur beim Einkaufen und an der Tankstelle auf Menschen gestoßen. Es war Juli und wie ich mich erinnern kann, auch extrem heiß. Da ich unter der Woche fotografiert habe und die Daadener vermutlich bei der Arbeit waren, hatte ich das Spielfeld für mich allein.

Beim Betrachten Ihrer Bilder: Tristesse hat doch auch etwas Schönes für einen Fotografen.
In allem steckt etwas Schönes, man muss nur in der Lage sein, es zu sehen. Der Maler hat die falschen Farben dabei und die Landschaft, die er malen wollte, entspricht nicht der, die er sich vorgestellt hat. Er kann abbrechen, den ganzen Weg zurückgehen und sich darüber ärgern oder mit dem arbeiten, was er zur Verfügung hat. Man kann aus jeder Situation etwas Positives ziehen.

Wie wichtig ist Ihnen die Spontaneität in der Fotografie?
Wenn ich nicht gerade an einem Auftrag arbeite, ist meine Fotografie meist extrem spontan. Ich brauche auch das Gefühl, dass ich irgendwo reinfalle, denn dann muss ich mich mit den Begebenheiten auseinandersetzen und es passieren immer Dinge, die man überhaupt nicht planen kann. Genau deshalb reise ich die meiste Zeit, davon lebt meine Fotografie und es ist Nahrung für meine Seele.

Wie hilft Ihnen die Leica M in solchen spontanen Momenten?
Die Leica M ist die Kamera, die ich immer dabeihabe. Sie ist klein, unauffällig und liefert eine überzeugende Bildqualität. Meist verwende ich das Summilux-M 1:1.4/35. Mittlerweile ist die Kamera auch schon sehr patiniert und sieht überhaupt nicht mehr hochpreisig aus. Das lässt mich in einigen Ländern entspannter reisen.

Einerseits wirken Ihre Aufnahmen wie Schnappschüsse, andererseits folgen sie einer gewissen Komposition …
Der Komposition des Schnappschusses. Eine wahre Kunst, die nicht viele beherrschen. Mir gelingt es auch nicht immer, ich stehe damit noch am Anfang. Ich bin kein Techniker und treffe keine rationalen Entscheidungen. Ich lasse mich ausschließlich von meinen Gefühlen leiten, ich brauche im Bild einen Anker. Etwas, das mich dazu bewegt, den Auslöser zu drücken. Das können viele Dinge sein. Ein violettes Auto unter einem grünen Baum, ein Gebüsch an einer Straßenecke oder ein Fleck auf dem Boden.

Sie arbeiten sonst zumeist in Schwarzweiß, warum haben Sie sich bei dieser Serie für Farbe entschieden?
Schwarzweiß ist für mich die absolute Klarheit, es zeigt in meinen Bildern die Kernaussage, ohne dass Farben davon ablenken. Ich habe in Daaden überhaupt nicht darüber nachgedacht, Farbe wegzulassen. Meiner Ansicht nach war das in diesem Fall nicht notwendig, es hätte sogar Kraft aus den Aufnahmen genommen.

Was bedeutet Ihnen als Fotograf das Dokumentarische, das Ablichten der Wirklichkeit?
Seit ich denken kann, faszinieren mich Dokumentationen. Bewegt oder statisch, das spielt keine Rolle. Aber was ist denn Wirklichkeit? Das kann nur etwas sein, das ich in einem Moment und an einem Ort sehe und festhalte. Alle äußeren Umstände fließen mit ein und werden zu dem, was auf dem Bild zu sehen ist. Eine Fotografie ist aus meiner Sicht ein kaum zu fassendes Werk, in dem alles, was der Fotograf spürt, vorkommt. In diesen Momenten bin ich vollkommen frei, ich bin wieder Kind in einem bunten Zimmer mit Dutzenden Spielzeugen. Ich baue mir meine eigene Welt.

Jo Fischer, 1970 in Berlin geboren, ist in Kuwait aufgewachsen. Nach einer Ausbildung zum Zimmermann gründete er zunächst eine Band, bevor er sich mit 38 Jahren für die Fotografie entschied. Seine erste Einzelausstellung fand 2010 in der Hamburger Galerie Heliumcowboy Artspace statt, es folgten unter anderem Ausstellungen in der Millerntor Gallery und in den Deichtorhallen (beide Hamburg). Seit 2012 ist er Leica-Fotograf und fotografiert mit der Leica M und SL2. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Jo Fischer auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.