Fotograf, Bildjournalist, Filmemacher, Künstler: Die Vielfalt seines Werkes lässt sich ab dem 9. Juli in der Ausstellung Taking Pictures – Making Pictures entdecken. Alberto Venzago gehört zu den ganz großen Fotografen der Schweiz. Auch wenn er heute wieder in Zürich lebt, war er doch die meiste Zeit seines Lebens ein Weltenbummler. Er hat auf verschiedenen Kontinenten gelebt, Rastlosigkeit gehörte viele Jahre zu seinem Alltag. Ob Yakuza in Japan, Revolution im Iran, Kinderprostitution in Manila, Voodoo in Afrika oder Prominenten-Porträts aus Zürich: einst ausgezogen, um mit seiner Leica die Welt zu verändern, hat Venzago in den vielen Jahrzehnte seiner Karriere virtuos zwischen unterschiedlichen fotografischen Genres gewechselt. Reportage, Dokumentation, Werbung und Inszenierung, aber auch der Film gehören zu seinem fotografischen Kosmos. Wir sprachen mit ihm über sein Leben und sein Werk.

Eigentlich erstaunlich, dass erst jetzt erstmals eine umfangreiche Retrospektive zu Ihrem Werk gezeigt wird …
Ja, aber das Wort mag ich gar nicht so gern. „Retrospektive“ – das klingt wie der erste Schritt zum Nachruf.

Aber warum hat es denn so lange gedauert, bis Ihr Lebenswerk diesen großen Auftritt bekommen hat?
Ich habe immer nur nach vorn geschaut. Ich hatte nie die Zeit, mein Archiv, meine Negative und Dias durchzugehen. Wichtig war immer das nächste Projekt. Eigentlich war ich immer unterwegs. Zwei Jahre lebte ich in Australien, fünf in Tokio, fast zehn in New York, in Afrika war ich immer wieder unterwegs, habe Filme gedreht. Die Schweiz war für mich immer eine Insel, um mich von der Welt zu erholen. Und jetzt hatte ich endlich die Zeit, alles noch einmal anzusehen, mein Werk zu ordnen und zu digitalisieren. Dank der Reisebeschränkungen durch Corona und einem langen Jahr Arbeit ist nun fast alles fertig. Als ich vor all den Bildern saß, ist dann auch die Idee entstanden, wieder einmal ein Buch zu machen, das eher wie ein Kaleidoskop aller Teile meines Werks aussehen soll. Und passenderweise kam dann auch das Museum auf mich zu – da kann ich mich wieder nur bei den Voodoo-Göttern bedanken.

Sie haben Hunderttausende Bilder fotografiert, die Auswahl in der Ausstellung und im begleitenden Katalog zeigt ihre wichtigsten Themen, aber auch viele bisher unveröffentlichte Aufnahmen. Können Sie sich noch an Ihre allerersten Aufnahmen erinnern?
Ich war immer Autodidakt. Als 15-Jähriger habe ich mich langsam herangetastet. Zuerst habe ich die Mädchen aus der Nachbarschaft fotografiert, später dann Bands. Mein erster Auftraggeber war das Schweizer Jugendmagazin PopP, vergleichbar der deutschen Bravo. Pink Floyd, Led Zeppelin oder die Stones waren ganz groß auf meinem Radar, ich war völlig fasziniert von diesem Leben. Ich erlebte die Macht der Fotografie, sie wurde zum Türöffner für die Welt. Und ich hatte einen Zugang zu den Musikern, weil sie merkten, dass ich etwas von Musik verstand.

Dabei hatte sich in Ihrem Leben ja bisher alles eher um klassische Musik gedreht …
Ja, ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen. Mein italienischer Vater war Architekt, meine Mutter stammte aus einer deutschen Schauspieler- und Künstlerfamilie. Mein Vater spielte leidenschaftlich gern Geige und mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Mario am Klavier und mir traten wir damals als Trio auf. Ich spielte Klarinette, studierte auch am Konservatorium. Aber ein Motorradunfall beendete meine Karriere. Ich musste komplett umdenken; heute sehe ich das als Glücksfall. Mein Bruder ist Dirigent geworden. In meinen Filmen geht es um Musik, viele Orchester habe ich begleitet, auch meinen Bruder. So konnte ich mich zwischen beiden Welten bewegen und wurde immer wieder beglückt. Musik ist bis heute eine große Triebfeder in meinem Leben.

Wie ging es nach dem Unfall mit der Fotografie weiter?
Ernsthaft habe ich mich eigentlich erst sehr spät der Fotografie zugewandt. Erst nach meiner Auswanderung, denn ich wollte nicht zum Militär. Und auch nicht in den Knast. Erst war ich in Australien, über Timor und Bali ging es weiter nach Japan. Langsam begriff ich, dass Fotografie mehr als ein Hobby war. Ich wurde ernsthafter, engagierter, mein Leben als „concerned photographer“ begann.

Welche Reportage ist Ihnen aus dieser Zeit am wichtigsten?
Die Iran-Reportage war prägend. In ihr habe ich zum ersten Mal meine Handschrift gesehen. Ich wollte eine Geschichte über die islamische Revolution machen, aus Sicht der Betroffenen und nicht aus der Sicht westlicher Medien. Das Risiko war enorm, aber ich gewann den ICP Infinity Award, wurde Kandidat bei Magnum.

Mit einer Leica?
Ja, meine erste Leica habe ich mir noch vor meiner Zeit in der Bildagentur Magnum gekauft. Später sollte eine Leica M6 mein Arbeitsgerät werden. Ich liebe die Leicas, sie sind klein, robust, die Objektive brillant. Heute habe ich immer die Q2 dabei, früher war es die M6.

Eine der bekanntesten Serien, die Sie mit der M6 fotografierten, ist Ihre große Reportage über die japanische Mafia, die Yakuza. Wie haben Sie deren Vertrauen gewonnen?
Ich war immer fasziniert vom Dunklen, in Tokio habe ich diese dunklen Mercedes-Limousinen gesehen. Dann die Gangster, die aussahen wie aus amerikanischen Filmen der 50er-Jahre. Nach sechs Monaten hatte ich ersten Kontakte. Über fünf Jahre habe an dieser Serie gearbeitet. Ich war damals der einzige Fotograf, der so nahe an die Yakuza herankam, ausgerechnet ein Hippie aus der Schweiz. Als Japaner hätte man das nicht machen können, ich als Ausländer schon. Manchmal, wenn 1000 Mitglieder in einem Raum waren oder auf Beerdigungen, wenn sich auch verschiedene Clans trafen, war ich immer der einzige Nichtjapaner. Die mochten mich einfach, ich hatte lange Haare, immer schöne Freundinnen dabei, ich war einfach anders. Vielleicht so etwas wie ein Hund an der Leine, der überall dabei sein durfte. So nahe, dass sie mich einfach nicht mehr beachtet haben. Mit der Leica war das diskrete Fotografieren dann kein Problem.

Wollten die Yakuza die Bilder sehen oder selbst haben?
Ich habe ihnen immer wieder Bilder mitgebracht, was ich sonst nie gemacht habe. Schöne, teure Silbergelatine-Prints, die ich in einem Labor in Paris anfertigen ließ. Die kamen aber gar nicht gut an. Erst als ich sie mit Großbild und Studiolicht fotografiert habe, waren sie zufrieden. So wollten sie sich selbst gern sehen.

Wie kam es zu der Veränderung, die Sie vom Bildjournalismus weg, hin zu freien Arbeiten brachte, vom „Picture Taking“ zum „Picture Making“?
Es gab nur noch dieses rastlose Leben. Hotels, nirgends Zeit zum Verweilen. Ich wollte die Welt mit meinen Bildern verändern, wünschte mir manchmal, meine M6 wäre ein geladener Colt, wenn ich die scheußlichsten Dinge fotografierte. Aber oft hat das dann niemand gedruckt. Die Erkenntnis kam: „C‘est pas un image juste – ce juste une image“ (Es ist kein gerechtes Bild, es ist nur ein Bild). Ich habe mir dann meine eigenen Themen gesucht.

Und auch als Werbefotograf wurden Sie sehr erfolgreich.
Die Werbung erlaubte mir, die großen Reportagen zu finanzieren. Das war großartig, für Werbung, die damals aussah wie Fotojournalismus, hundertmal besser bezahlt zu werden. Ich wusste immer, das ist nur ein Mittel zum Zweck, nicht der Lebensinhalt. Das Geheimnis war, sich nicht verführen zu lassen, nicht Sklave der eigenen Kreativität zu werden.

Gibt es einen fotografischen Wunsch, den Sie sich noch nicht erfüllt haben?
Oh, das ist schwer, ich weiß es nicht. Es gibt noch so viele Ideen …

Dann entdecken wir jetzt erst einmal Ihr Werk in Ausstellung und Katalog. Vielen Dank für das Gespräch.

Alberto Venzago wurde am 10. Februar 1950 in Zürich geboren. Nach dem Studium der Heilpädagogik und der Klarinette entscheidet er sich mit Mitte zwanzig als Autodidakt für die Fotografie. Rasch erfolgreich, pendelt er seither mühelos zwischen bildjournalistischer Dokumentation, freier künstlerischer Arbeit und Werbefotografie. Zahlreiche Fotobände, etwa Yakuza, Inside Report über die japanische Mafia (1990) oder Voodoo: Mounted by the Gods (2003), der Venzagos gleichnamigen Film begleitete. Zu seinen Filmen zählen auch Mein Bruder der Dirigent (2007) und Mythos Gotthard: Der letzte Streckenwärter (2008). Er war Kameramann bei mehreren Dokumentarfilmen, etwa bei Wim Wenders’ The Invisibles: Congo (2007) oder bei Jagdzeit – Den Walfängern auf der Spur (2009). Sein jüngstes fotografisches Großprojekt One – Seduced by the Darkness realisierte er mit seiner Partnerin und Muse Julia Fokina. Weitere Informationen finden Sie auf Alberto Venzagos Website und in seinem Instagram-Kanal.

Ein Portfolio in der LFI 4/2021 gibt Einblick in das Werk des Fotografen.

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

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