Wassermangel, Migration, Ausbeutung: Der Fotograf Lars Borges erzählt mit seinen Bildern eine Geschichte über die Auswirkungen des ungehemmten Kapitalismus in den USA. Vor allem aber erzählt er von den Menschen, die ihm mit einem unbeugsamen Optimismus begegnen. So entstand ein farbenprächtiges, traumhaftes Buch über Liebe und Zuneigung.

Es heißt, Sie hätten sich schon im Flugzeug ins Imperial County verliebt …
Sagen wir es so: Mein Interesse wurde geweckt. Ich war damals auf einem Job in den USA, der erste Teil des Shootings fand in New Orleans und der zweite in San Diego statt. Wenn man diese Strecke überwinden möchte, fliegt man an der Südgrenze der USA mehrere Stunden über nichts als endlose Wüstenlandschaften. Ich schaute aus dem Fenster und hing meinen Gedanken nach, als auf einmal in der Wüste dieses riesige grüne Raster auftauchte, in einer für mich noch nie gesehenen Größe. Ich fragte mich: Wie kann das sein – Felder in der Wüste? Als ich meinen Auftrag erledigt hatte, brach ich gleich zu einem ersten Recherche-Trip auf, dem drei weitere Aufenthalte folgten.

Imperial County gehört zu den jüngsten, aber auch ärmsten Landkreisen in den USA. Wie haben Sie die Situation dort erlebt?
Die Situation ist, gelinde ausgedrückt, extrem. Die Wüste wird fruchtbar gemacht, indem riesige Mengen von Wasser und Dünger auf die Felder gepumpt werden – die Landwirtschaft ist hochgradig industrialisiert, sie verseucht die Natur, die Menschen leiden unter Asthma … Der Saltonsee, das größte künstliche Süßwasser-Reservoir der USA, ist gekippt und stinkt, tote Fische säumen die Ufer. Es gibt kaum Jobs, Tagelöhner arbeiten für einen Hungerlohn unter glühender Sonne auf den Feldern. Das Essen ist ungesund, das Leitungswasser nicht trinkbar, der Alltag wird von Drogen und illegaler Einwanderung beherrscht. Findet das lang erwartete große Beben, the big one, sein Zentrum im Imperial Valley – so eine Theorie –, würde das gesamte Tal geflutet werden. Mad Max ist genau genommen vom Lebensgefühl im Imperial County nicht allzu weit entfernt.

Ist Ihre Serie eine Gesellschaftskritik?
Ja, aber sie ist nicht anti-amerikanisch. Ich liebe die Kraft und den Optimismus der Amerikaner und habe viele gute Freunde dort. Es ist jedoch eine Kritik am entfesselten Kapitalismus nach US-Vorbild. Wollen wir nicht auf dem gesamten Planeten Zustände wie im Imperial County bekommen, müssen wir bestimmte Dinge einfach politisch regulieren. Ich glaube, eine funktionierende soziale Marktwirtschaft, die die Umwelt und Interessen der Menschen berücksichtigt, ist am Ende besser für alle als ein System, das auf reine Gewinnmaximierung ausgelegt ist.

Welchen fotografischen Ansatz haben Sie verfolgt?
Mir war wichtig, nicht als Außenstehender zu kommen und mir ein Urteil von oben herab zu erlauben, also musste ich im Prinzip erst einmal verstehen, wie und was es bedeutet, dort zu leben. Das ist mir über die Nähe zu meinen Protagonisten gelungen. Ich wollte die Menschen auf Augenhöhe zeigen und ihnen ein gewisses Maß an Kontrolle über ihr eigenes Abbild geben.

Wie haben Sie erreicht, dass Ihnen die Menschen so vertraut haben, dass sie sich vor Ihrer Kamera quasi ausgezogen haben?
Vor allem mit sehr viel Zeit und Ehrlichkeit. Ich habe meine Protagonisten so weit und so tief wie möglich in meine Pläne und Ansichten eingeweiht, sie mit ihnen diskutiert und überprüft. Für manche Fotos habe ich Tage gebraucht, oft habe ich zunächst einen Tag mit den Leuten verbracht, bevor ich das erste Mal auf den Auslöser gedrückt habe – im Nudisten-Camp etwa. Andere Bilder sind jedoch auch spontan als direkte Reaktion auf irgendeine Begebenheit entstanden.

Im Imperial County können die Temperaturen auf bis zu 50 Grad steigen. Wie haben Sie die Hitze erlebt und wie hat sich die Leica M9 bewährt?
Die Hitze ist mörderisch, man trocknet aus, die Lippen platzen, Leute verdursten – etwa bei dem Versuch, illegal die Grenze zu überqueren. Autoreifen werden weich und Kühler kochen. Die Kamera aber hat stets hervorragend funktioniert. Das Licht war ideal für den Kodak-CCD-Sensor.

Sie haben Farbe und Querformat bevorzugt …
Ich sehe meine Bilder meist in Farbe. Das Licht in Kalifornien ist unglaublich und es wäre schade, auf das Farbrendering zu verzichten. Das Querformat unterstreicht die filmischen Aspekte des Projekts, den Charakter eines Roadmovies.

Ein Vorbild von Ihnen ist der Filmregisseur Terrence Malick, er untersucht zumeist die Verbindung zwischen Individuum und Natur. Wie sieht diese Verbindung in Ihrem Projekt aus?
Terrence Malicks Poesie und Bildgewalt hat mich schon immer fasziniert, nur geht es im Imperial County etwas prosaischer zu. Ähnlich ist vielleicht die Erkenntnis, dass der Mensch durch die Umgebung, in der er lebt, geformt wird und gleichzeitig versucht, diese Umgebung zu formen und zu gestalten, mit mehr oder weniger großem Erfolg. In diesem Sinne prägen natürlich die Bedingungen im Imperial County die Physiognomie und Präsenz der Protagonisten.

Wie sind die Landschaftsaufnahmen aus der Luft entstanden?
Da sind die Amerikaner ja wirklich toll und unkompliziert! Ein Pilot, den ich zufällig kennengelernt habe, bot mir an, mich in seiner Cessna mitzunehmen und mir alles von oben zu zeigen. Es war ihm eine sichtliche Freude, mich über das ganze Tal zu fliegen. Immer, wenn ich ein Foto machen wollte, hat er mich an die richtige Stelle geflogen und die Maschine einfach komplett auf die Seite gedreht. Außerdem hat er mich gleich beim ersten Mal starten und landen lassen.

Gibt es im Imperial County noch so etwas wie den American Dream?
Ja, den Traum gibt es, bloß er wird dort für fast niemanden mehr wahr. Das Erstaunliche ist aber, je ärmer die Menschen sind, umso mehr glauben sie an ihn. Irgendwie hat das System es geschafft, dass, wenn die Leute scheitern, sie sich dafür selbst die Schuld geben – und nicht wie die Deutschen eher dem Staat oder der Politik. Zweifler am amerikanischen Traum findet man nach meiner Erfahrung eher in den relativ wohlhabenden Bildungseliten der Großstädte.

Welche besondere Erfahrung haben Sie aus Imperial County mitgenommen?
Selbst unter den härtesten Bedingungen ist unsere Spezies in der Lage, sich einzurichten und anzupassen. Und letztlich finden sich überall menschliche und warme Momente. Außerdem habe ich gelernt, dass ein eiskaltes Sixpack Bier in der Wüste besonders viele Türen öffnet.

Lars Borges hat Fotografie bei Prof. Manfred Paul und Dr. Enno Kaufhold studiert. Seit 15 Jahren ist er in Berlin als freiberuflicher Fotograf für Kunden und Magazine weltweit tätig. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgestellt, unter anderem in der Leica Galerie und in der Kunsthalle Wien, sie sind in Publikationen wie der New York Times, dem Guardian und dem Zeit Magazinerschienen. Neben seiner Tätigkeit als Auftragsfotograf arbeitet Borges an eigenen fotografischen Essays und Projekten. Sein Buch Imperial County ist 2017 im Kehrer Verlag erschienen. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Lars Borges auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.