Wenn sich langsam Ruhe über die Stadt legt, macht sich Joep Hijwegen mit seiner Leica SL auf die Suche nach den besten Motiven. Nacht für Nacht streift er durch die Straßen von Utrecht und Amsterdam, getrieben von seinem Instinkt und einem besonderen Sinn für Ästhetik. Im Laufe der Zeit hat er eine einzigartige Weise entwickelt, um die Geschichte einer zur Ruhe gekommenen Stadt zu erzählen, in der die Neonlichter strahlen und das Gewöhnliche plötzlich magisch wird.

Offenbar lieben Sie Städte nach Sonnenuntergang. Was fasziniert Sie daran, in der Dunkelheit mit künstlichem Licht zu spielen?
Ich fühle mich sowohl von der Ästhetik als auch von der Atmosphäre der Nacht angezogen. Aber am wichtigsten ist vielleicht, dass sie eine andere Art des Sehens erzwingt, die an Träume erinnert. Im Vergleich zum Tag ist alles gleichzeitig konzentrierter und mehr im Fluss. Das Fehlen von natürlichem, konstantem Licht bedeutet, dass es eine Begrenzung dessen gibt, was man zur selben Zeit erlebt, wobei bestimmte Situationen und Szenen stärker hervortreten als andere. Gleichzeitig ist das Licht ständig in Bewegung und jede Sekunde ist anders: Die Nacht erscheint mir wie ein gefilmter Traum.

Stand am Anfang Ihres Projekts eine bestimmte Idee oder macht es Ihnen einfach Spaß, die Dinge, die Sie sehen, auf Ihre Weise festzuhalten?
Mein letztes Buch und Projekt, Blue Hours, war das erste, bei dem ich wirklich an einem Projekt gearbeitet und nicht nur ein Bild nach dem anderen fotografiert habe. Trotzdem folgt es nicht einer im Voraus festgelegten Idee. Das Zusammentreffen des Lockdowns mit einer Trennung hat einfach etwas in meinem Kopf verändert. Das spiegelte sich in meinen Bildern wider und sobald ich das Muster bemerkte, dass mehr natürliche Formen und weniger Menschen auftauchten, war mir klar, dass diese Art zu sehen nicht ewig anhalten würde. Ich entschied mich, diesem Instinkt zu folgen.

Was fällt Ihnen ins Auge, wenn Sie auf der Straße unterwegs sind? Haben Sie Lieblingsmotive oder -orte?
Alles, was mich dazu bringt, anzuhalten und die Kamera zu heben – und das wird immer mehr, je länger ich fotografiere. Früher habe ich mich vor allem für Menschen und nostalgische Elemente interessiert, aber in dieser Serie tauchen plötzlich neue Dinge wie Bäume oder Stoppschilder auf. Das hat mich überrascht, denn früher habe ich die verabscheut und mir Mühe gegeben, sie aus meinen Fotos herauszuhalten. Als ich mit der Arbeit vorankam, fing ich an zu begreifen, warum ich sie plötzlich liebte. Ich fühle mich zu einer Ästhetik hingezogen, die eine gewisse symbolische Bedeutung haben muss.

Tatsächlich sind in diesen Aufnahmen kaum Menschen zu sehen. Welche Rolle spielte der Lockdown für Ihr Projekt?
Was die physische Umgebung angeht, hätte ich dieselbe Arbeit auch ohne Lockdown anfertigen können, da die Gegenden, in denen ich fotografierte, auch vorher schon zum größten Teil menschenleer waren. Aber ohne Lockdown hätte es mich nie dorthin oder zu diesen Fotos gezogen. Der Lockdown definierte meinen Gemütszustand und mein Wunsch war es, dieses Gefühl einzufangen – und die Stadt als menschenleere Einöde festzuhalten.

Ihre Bilder fesseln durch Melancholie, Surrealismus und eine spielerische Ästhetik. Welches sind die größten Einflüsse auf Ihre Fotografie?
Die meisten meiner visuellen Einflüsse liegen außerhalb der Fotografie, in der expressionistischen und impressionistischen Malerei und den Science-Fiction-Filmen des späten 20. Jahrhunderts. Die Malerei hat meine Gedanken über Textur und Farbkomposition beeinflusst. Für mich soll ein Foto auch dann noch funktionieren, wenn man es völlig unscharf aufnimmt und auf den Kopf stellt. Ich möchte, dass sich die „Felder“ aus Farbe und Licht instinktiv gut anfühlen. Letzteres ist eine Inspiration sowohl für das Motiv als auch für die allgemeine Ästhetik. Die hochstilisierten Welten des Cyberpunk zum Beispiel haben es in sich: In gewisser Weise sind es Popkultur und kommerzielle Bilder, die so extrem aufgenommen werden, dass sie künstlerisch werden. Diese Filme zeigen, dass man durch die Verdoppelung der exzessivsten Teile der visuellen Mainstream-Kultur etwas über die Obsessionen und Laster unserer Gesellschaft aussagen kann, und ich denke, das ist etwas, das auch mich motiviert.

An welchem Punkt in Ihrem Leben haben Sie mit der Fotografie begonnen und wie hat sich Ihre Leidenschaft im Laufe der Zeit entwickelt?
Am Anfang war Fotografie für mich eine Form der Therapie: Meine ersten Bilder entstanden als eine Art visuelles Tagebuch, das mich daran erinnerte, wo ich gewesen war und was ich getan hatte, um nicht einfach zu vergehen – für mich eine tödliche Angst. Ich entdeckte schnell, dass die größte therapeutische Kraft der Fotografie darin liegt, aus bestehenden Situationen etwas Neues zu schaffen. Sobald ich auf den Auslöser drückte, hatte ich nicht nur einen Zustand der Welt eingefangen, sondern auch einen neuen erschaffen. Diese Fähigkeit der Fotografie, die Realität so zu verändern, dass sie zu unserer wird, ist immer noch meine größte Inspiration und mein Antrieb. Ich möchte ausdrücken, wie ich die Welt erlebe, indem ich sie festhalte, nicht um zu zeigen, was wirklich passiert, sondern welche Erzählungen ich sehe.

Offenbar wägen Sie immer sorgfältig zwischen formaler Ästhetik und Stimmungen ab. Was ist für Sie wichtiger? Gibt es etwas, das Sie beim Betrachter hervorrufen möchten?
Ich sehe beides als zutiefst komplementär und gleichermaßen essenziell. Selbst die interessanteste Situation bei schlechtem Licht führt immer noch zu einem schlechten Foto – wenigstens in meinen Augen. Für mich kann etwas nur Eindruck machen, wenn es ästhetisch schön ist. Egal, wie wichtig das Thema ist, es interessiert mich nur, wenn ich es so einordnen kann, dass es sich für mich gut anfühlt. Das liegt auch an meinem Ziel in der Fotografie: die Kraft des Subjektiven zu zeigen. Für mich geht es bei der Fotografie darum, Bedeutung und Ordnung in einer Welt zu finden, die zufällig erscheint, und ich hoffe, andere dazu zu inspirieren, das gleiche zu tun.

Wie sind Sie mit der Welt der Leica Kameras in Berührung gekommen?
Meine erste Kamera war eine kleine Polaroid und ein billiger No-Name-Messsucher. Später kaufte ich mir eine M3 als „therapeutische“ Kamera, die ich benutzen konnte, wenn ich einen digitalen Burnout hatte. Ich liebte das Aussehen, das Gefühl, das Messsucher-Erlebnis und wollte schnell ein digitales Äquivalent haben. Ich verbrachte eine Weile damit, verschiedene Dinge auszuprobieren, um zu sehen, was ich brauchte, und landete schließlich bei der Leica SL (Typ 601) für hochpräzise Arbeiten, die einen EVF erfordern, und der M9-P für ein lockerere, spontanere Herangehensweise. In Kombination mit der M3 und einer R4 habe ich analoge und digitale Workflows, die ähnlich genug sind, um mein Aufnahmeverhalten nicht verändern zu müssen.

Sie haben Blue Hours mit der Leica SL fotografiert. Inwiefern hat die Kamera geholfen, Ihre Ziele zu erreichen?
Ich denke, der EVF hat den größten positiven Einfluss gehabt. Ich war schon immer ein Fotograf, der nur mit manuellem Fokus fotografiert hat, und bevorzuge alte Objektive, sowohl wegen ihrer Wiedergabe als auch wegen ihrer Haptik. Aber mit älteren Kameras hatte ich einige unangenehme Überraschungen, sobald ich meine Bilder auf einem großen Bildschirm sah, aber mit dem hochauflösenden EVF ist das, was ich sehe, immer das, was ich bekomme. Es hilft auch, dass er eine natürliche Farbabstufung zeigt, die ich wirklich mag, denn ich sehe mehr Potenzial in Szenen, die ich sonst vielleicht langweilig fände. Man kann die Kamera einmal so einstellen, damit sie alles tut, was man will, und braucht danach im Grunde nie wieder darüber nachzudenken. Das ist großartig, denn ich finde, je weniger man beim Fotografieren denken muss, desto mehr kann man sich vom Instinkt leiten lassen.

Verfolgen Sie bei Ihren Projekten einen bestimmten fotografischen Ansatz?
Bei diesem speziellen Projekt waren die Zeit und der Ort sehr wichtig. Ich begann erst ab Sonnenuntergang zu fotografieren und nur in verlassenen Stadtgebieten. Das erforderte eine gewisse Planung und bedeutete, dass ich jeden Tag ein kurzes Zeitfenster für Erkundungen hatte, oft nach Sonnenuntergang. Ansonsten gab es keinen wirklichen Ansatz, außer dass ich mich von meinem Auge und meinem Bauchgefühl leiten ließ. Das Schwierigste ist, das nicht einzuschränken, indem man sich in irgendwelchen Vorstellungen darüber verstrickt, was man fotografieren sollte, oder Grenzen setzt, was Teil des Projekts ist und was nicht. Vielmehr versuche ich, einfach meinen Impulsen zu folgen und das zu fotografieren, was mir schön erscheint.

Joep Hijwegen, geboren 1994, ist als Fotograf Autodidakt. Der „Junge vom Land“ nahm zum ersten Mal eine Kamera in die Hand, während er an einem Philosophie-BA arbeitete. Zunächst fotografierte er nur als eine Form der Selbsttherapie, begriff das Medium aber immer mehr als Möglichkeit, sein Leben neu zu gestalten und ihm einen Sinn zu geben. Seit 2020 ist er bei der Galerie Kahmann in Amsterdam unter Vertrag, an kommerziellen Projekten arbeitet er über die Agentur Underpromise. Er hat zwei Bücher im Selbstverlag veröffentlicht, wobei Blue Hours gerade zu seiner ersten Einzelausstellung bei Mendo Books geführt hat. Wenn er nicht gerade fotografiert, befasst Hijwegen sich mit Filmen, Büchern und Musik. Seine besondere Leidenschaft gilt der Existenzphilosophie, Science-Fiction-Filmen, instrumentalem Jazz und Hip-Hop, die alle auch als Inspiration seiner Fotografie fungieren. Er lebt in Utrecht. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Joep Hijwegen auf seiner Website und in seinem and Instagram-Kanal.

Leica SL2

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