Fasziniert von den Gnuri auf den Straßen von Palermo, verbrachte der italienische Fotograf viel Zeit mit ihnen. Er beobachtete und erlebte ihre Dynamik, ihren Arbeitsstil und die Ausbrüche ihrer Charaktere. Cirrincione gelang ein wunderbares und ausdrucksstarkes Porträt einer alten Tradition, die bis heute überlebt hat.

Wer sind die „gnuri“?
In Palermo ist ein Kutscher ein „u gnuri“, eine Verkleinerungsform von „gnuranti“, was im Sizilianischen „unwissend“ bedeutet. Mit seiner „zotta“ (Peitsche) und seiner schwarzen Schürze fährt er die Touristen in einer Pferdekutsche durch die Stadt. Früher war das Reisen mit der Kutsche ein Privileg, das nur dem Adel vorbehalten war. Vor dem wirtschaftlichen Aufschwung in den 1970er-Jahren, als noch nicht jeder ein Auto besaß, bewegte sich der Großteil der Bevölkerung in Pferdekutschen durch die Stadt. Sie waren das beliebteste Verkehrsmittel und die Gnuri galten als die Herren von Palermos Straßen.

Wie kamen Sie auf die Idee für diese Serie?
Als ich eine religiösen Kinderprozession durch die Straßen von Palermo beobachtete, passierten wir ein wunderschönes, mindestens 90 Jahre altes Kutschendepot. Fasziniert von dem Ort und den Themen, kam ich mit den Leuten dort ins Gespräch und erklärte ihnen, was ich machen wollte. Und hier sind wir nun! Es handelt sich um eine der Geschichten, die an Tradition und altes Handwerk anknüpfen, welche in unserer Stadt noch heute überleben.

Welchen fotografischen Ansatz haben Sie verfolgt?
Ich habe einfach so viel Zeit mit den Gnuri verbracht, bis ich wie einer von ihnen wurde. Ich erlebte und beobachtete ihre Dynamik, wie sie arbeiteten, die Ausbrüche ihrer Charaktere und als Kern meiner Erfahrung: ihre Menschlichkeit. Soweit ich das überblicken kann, sehen manche Leute heute Fotografen als Bedrohung an, weil sie in den Medien über etwas Nachteiliges berichten könnten. Deshalb halte ich es für wichtig, mit den Menschen, die ich fotografiere, eine Freundschaft zu pflegen. Ich möchte sie daran erinnern, dass ich fotografiere, um einen Moment für immer festzuhalten.

Ihre Bilder sehen aus, als wären sie in einer anderen Zeit als im 21. Jahrhundert aufgenommen worden. Ist Ihre Serie eine Hommage an etwas Vergangenes, an etwas, das zu verschwinden droht?
Ich denke oft, dass ich vielleicht einen Schritt hinter der aktuellen Zeit zurück bin, vielleicht ist diese künstlerische, kulturelle und ästhetische Mutation für unsere Zeit richtig. Durch meine Fotografien lebe ich den Moment in dieser Zeit. Ich versuche einfach, so zu fotografieren, als ob ich eine Zeitreise machte, die mich in die Zeiten zurückversetzt, in denen ich gerne gelebt hätte. Ich habe eine enge Beziehung zu Fotografen der Vergangenheit, die ich als Vorbilder verehre, und da ich nicht in die Vergangenheit zurückreisen kann, benutze ich meine kleine Leica, um meine Vision zu verwirklichen. Ein Beispiel dafür ist meine jüngste Arbeit mit dem Titel Der Maskenball, veröffentlicht im Blog des Magazins LFI. Wenn ich mich wie auf Zehenspitzen in eine solch intime Situation begebe, stelle ich mir vor, dass ich eine kleine Fliege bin, die versucht, die wunderbare Ordnung/Unordnung nicht zu stören, hinter der diese unsichtbare Regisseur steht, der als Zufall bekannt ist. So hat es Willy Ronis ausgedrückt. Es ist eine Versuchung, der ich nicht widerstehen kann.

Die notwendige Konsequenz für Sie war dann Schwarzweiß?
Ja, definitiv!

Es scheint, als ob Ihre Serien in einem einzigen Szenario, einer einzigen Kulisse spielen, die aus verschiedenen Perspektiven fotografiert wurde. Was bedeutet Raum oder Räumlichkeit für Sie?
Danke, dass Sie das bemerkt haben. Abgesehen davon, dass es eine gute Übung ist, ist es nicht einfach, eine Geschichte durch ein Foto zu erzählen. Für mich bedeutet es, die Personen und den Ort vollständig zu erleben, in ihre Geräusche, Klänge und Gerüche einzutauchen. Sie in 360 Grad zu erleben bedeutet, einer von ihnen zu werden. Gleichzeitig scheinen die Bilder durch diese Art der Aufnahme etwas Filmisches zu erzeugen.

Welche Bedeutung haben der Film und die Bewegung, die er zeigt, für Sie?
Danke für die Frage: Das schmeichelt mir sehr. Im Allgemeinen ist es nicht einfach, meine Absichten und Ideen hinter den Fotos zu erkennen. Gesten und Bewegungen sind grundlegend, um eine Szene darzustellen und den Moment einzufangen. Ich wähle den richtigen Moment, um die Geste einzufangen, die dem Betrachter des Fotos die Idee der Bewegung vermittelt. Das ist meiner Meinung nach eine der größten Herausforderungen, denn wenn ich den richtigen Moment verpasse, geht die eigentliche Bedeutung des Fotos verloren.

Der Fokus der Fotografien liegt eigentlich weniger auf den Gnuri als auf den Pferden. Wie ausgeprägt ist die Verbindung zwischen beiden?
Ja, das ist wahr. Als ich fotografierte, wurde meine Aufmerksamkeit auf das Pferd gelenkt, denn die Gnuri existieren, weil es Pferde gibt. Ihre Verbindung ist sehr eng, und es gibt großen gegenseitigen Respekt. Einige Menschen beuten dieses schöne Tier nur aus, entweder für Rennen oder für den Schlachthof. Aber in diesem Fall hatten sie andere Aufgaben, beispielsweise den Transport. Außerdem habe ich selbst erlebt, wie gut und respektvoll diese Pferde behandelt, gepflegt und jeden Tag sauber gehalten werden.

Wie haben Sie Licht eingesetzt?
Ich suche immer nach einem möglichst dramatischen Licht und nach der richtigen Tageszeit, damit es eine Kontinuität des Lichts in dem Projekt gibt. Manchmal ist das nicht so einfach, denn an manchen Orten gibt es kaum Licht. Aber das, was da ist, reicht zumeist aus, die Atmosphäre, die ich wahrgenommen habe, wiederzugeben.

Haben Sie ein Lieblingsbild?
Ja, die Aufnahme zeigt einen alten Mann, der ein Pferd sanft und liebevoll mit einem Schwamm wäscht. Zwei Dreiecke machen die Komposition dieser schönen Geste aus: Sie laufen in der Bildmitte zusammen, ein Dreieck ist das Pferd, das andere die Kutsche.

Wie war die Arbeit mit der Leica M10?
Seit ich jung war, träumte ich davon, mit einer Leica zu arbeiten. Nach vielen Jahren bekam ich die erste Monochrom mit CCD-Sensor und eine M10, die ich immer noch habe. Das Gefühl, mit Leica Kameras und Optiken zu arbeiten, ist immer einzigartig, weil man die Aufnahme präzise erfassen und formen kann. Es ist eine schöne sensorische Erfahrung. Die Diskretion, mit der ich mich dem Motiv nähere, ist auch auf diese feine Ausrüstung zurückzuführen. Ohne sie könnte ich nicht leben.

Nachdem er 17 Jahre lang als Grafiker gearbeitet hatte, beschloss Angelo Cirrincione, sich wieder seiner ersten Liebe, der Fotografie, zuzuwenden. Er eröffnete ein Studio für kommerzielle Arbeiten und begann dann, persönliche Reportagen aufzunehmen. Der anthropologische Hintergrund, den er in der Street Photography spürt, ist für ihn unwiderstehlich, denn er fasst in einer Hundertstelsekunde zusammen, wer wir sind oder waren. Er liebt die ironische und poetische Seite des Lebens und versucht, sie mit seiner Fotografie zu finden. Die Fotografie ist für ihn ein Werkzeug, um zu entdecken oder wiederzuentdecken, was wir verloren zu haben scheinen. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Angelo Cirrincione auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

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