Die Kultur hat unter der Corona-Pandemie stark gelitten – das venezolanische Orchester La Gran Mariscal de Ayacucho bildet da keine Ausnahme. Mit einfühlsamen, harmonischen Porträts der Ensemblemitglieder zeigt Ana María Arévalo Gosen, wie es trotz der Umstände gelang, einen Weg zum Musizieren zu finden.

Wie kam es zu dem Projekt?
Anfang 2021 war ich in El Salvador, um für mein Langzeitprojekt Días Eternos zu fotografieren. Durch einen schönen Zufall traf ich eine alte Schulfreundin, Eugenia Vegas, wieder. Ihre Schwester Elisa leitet das venezolanische Orchester La Gran Mariscal de Ayacucho und Eugenia managt die riesige Maschine, die ein unabhängiges Orchester mit 75 professionellen Musikern darstellt. Mit Leidenschaft erzählte sie mir eindrucksvoll, was das Orchester während der schweren Zeit der Quarantäne wegen der Covid-Pandemie zusammenhielt: Die Musiker hatten von zu Hause aus ein Album aufgenommen. Meine Neugierde war sofort geweckt: Ich beschloss alle Musiker zu besuchen, um zu erfahren, wie diese großartige Musik jeweils gemacht wurde, aber auch, um zu zeigen, wie Orchestermusiker leben und wie sie nach so langer Zeit live zusammenspielen.

Was heißt Sinfonía Desordenada?
Sinfonía Desordenada bedeutet „Chaos-Sinfonie“. So heißt auch das Album. Die Arrangements der acht Lieder stammen von der legendären venezolanischen Ska-Band Desorden Publico. Von dieser Band stammen einige der bekanntesten venezolanischen Lieder – Hymnen, die den karibischen Ska definiert haben. Das Orchester La Gran Mariscal de Ayacucho ist in jeder Hinsicht unkonventionell. Angefangen bei der Dirigentin Elisa Vegas, die die einzige Leiterin eines großen Orchesters in Venezuela ist. Eine Leitidee des Orchesters besteht darin, die Grenzen klassischer Orchestermusik zu überschreiten und mit anderen Musikstilen zu experimentieren, wie in diesem Fall mit Ska. Sie sind revolutionär, weil ihre Mission darin besteht, Menschen zu vereinen, indem sie versuchen, Musik für alle zugänglich zu machen. Daher denke ich, dass der Name Sinfonía Desordenada über dieses spezielle Projekt hinaus sehr gut zu diesen Musikern passt.

Bringt das Fotografieren eines Orchesters auch den Versuch mit sich, Musik einzufangen?
Ja, einerseits. Aber das Wichtigste bestand für mich darin einzufangen, wie sehr diese Menschen von der Musik geprägt sind und wie wichtig sie für sie ist. Ich musste ihre Leidenschaft für die Musik und den allgegenwärtigen Geist der Musik in ihrem Leben zusammenbringen, aber auch ihre Qualitäten und ihre individuellen Charakterzüge hervorheben. Es ging nicht nur darum, die Musik einzufangen, sondern darüber hinaus zu verstehen, was es bedeutet, Musik für unsere Gemeinschaften zu machen, und wie das Orchester es geschafft hat, eine Lösung zu finden, obwohl es im Lockdown gefangen war.

Was bedeutet Musik für Sie persönlich – und für Venezuela?
Musik ist für mich meine andere künstlerische Seite. Ich habe schon sehr früh angefangen zu singen und nie damit aufgehört! Es ist ein wesentlicher Teil meiner Seele. Wenn ich Musik mache und singe, bin ich in meinem Element. Man kann sie einsetzen wie die Fotografie: Musik ist für mich eine wunderbare Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, mit anderen in Kontakt zu treten und den Moment zu erleben. Venezolaner haben Musik im Blut! Musik wacht mit uns auf und geht mit uns schlafen. Musik spielt immer irgendwo in unserer Nähe.

Gibt es einen Unterschied zwischen venezolanischer Musik und Musik aus anderen Ländern?
Diese Frage beantwortet Elisa so: „Die venezolanische Musik unterscheidet sich sicherlich von der Musik aus anderen Teilen der Welt, denn in diesem Land treffen viele Kulturen und Rhythmen aufeinander.“ Man spürt den Einfluss afrikanischer und westlicher Musik, die in einer Art „Vertropung“ vereint sind. Deshalb ist unsere Musik sehr fröhlich, lebendig und rhythmisch komplex. Unsere Musik besteht aus vielen lebhaften Melodien. Deshalb glaube ich, dass das Wesentliche der Karibik in Verbindung mit Traditionen aus verschiedenen Teilen der Welt – insbesondere aus dem Westen und aus Afrika – unsere Musik anders macht.

Wie haben Sie die Orte für die Porträts ausgewählt?
Es war von grundlegender Bedeutung zu zeigen, wie unverwüstlich die Musiker sind, wenn es darum geht, mit Musik gut und kraftvoll für unser Land zu agieren. Um zu zeigen, wie sie die Probleme der Vereinzelung gemeistert haben, habe ich alle in ihrem Zuhause besucht und sie dort porträtiert. Auf diese Weise kann der Betrachter Einblick in ihr Leben nehmen und einen Eindruck von dem gewinnen, was ihre Identität ausmacht. Viele Musiker berichteten, wie schwierig es war, zu Hause aufzunehmen, weil die Umgebung zu laut war: vorbeifahrende Busse, der Bananenverkäufer mit seinem Lautsprecher, die Nachbarn, die laute Musik hörten, oder Angehörige, die sie zum Abendessen riefen, als sie gerade die Aufnahmetaste auf ihrem Telefon drückten. Um diese Szenarien darzustellen, beschloss ich, einige der Musiker auf dem Transporter eines Bananenverkäufers zu porträtieren oder sie draußen auf der Straße spielen zu lassen. Für einige Aufnahmen habe ich auch Angehörige einbezogen.

Sie haben für Sinfonía Desordenada die Leica M10-R verwendet. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ja, die M10-R mit Brennweiten von 28 und 50 mm; das 28er eher für die Locations und das 50er für die Nahaufnahmen. Ich habe die Kamera zum ersten Mal verwendet und muss sagen, sie ist fantastisch. Sie ist schnell und leise. An den manuellen Fokus habe ich mich recht schnell gewöhnt (vorher habe ich die Leica Q benutzt). Die Qualität der Fotos ist großartig. Die M10-R unterstreicht die Essenz der Leica Kameras: Sie ist klein und bequem zu tragen, sie gibt weiche Kontraste und kräftige Farben wieder und erfasst Schatten mit erstaunlicher Präzision.

Wie wichtig ist Farbe in Ihrer Fotografie?
Farbe ist die Art und Weise, wie ich die Welt sehe. Ich wurde in der herrlichen, farbenfrohen Karibik geboren: Das prägt meinen Blick. Ich achte sehr auf die Farbpaletten meiner Kompositionen, weil ich weiß, dass sie es dem Publikum ermöglichen, von verschiedenen Emotionen ergriffen zu werden. Ich bin mir sehr bewusst, wie das Licht auf Farben wirkt, und wie ich meine Bilder durch das Licht, das die Formen streichelt, darstellen möchte.

Was haben Musik und Fotografie gemeinsam?
Die Arbeit an Sinfonía Desordenada und die Zeit, die ich mit den Orchestermitgliedern verbrachte, haben mich gelehrt, dass sich Musik ähnlich wie Fotografie als Waffe im Kampf gegen die Verzweiflung, zur Überwindung von Widrigkeiten und zum Dienst an unseren Gemeinschaften einsetzen lässt. Sie ist ein wunderbarer und kraftvoller Weg, um Seelen zu beeinflussen, Hoffnung zu bringen, eine Botschaft zu übermitteln oder Geschichten zu erzählen. Musik ist eine Möglichkeit, mit unbekannten Menschen in Kontakt zu treten und sie zusammenzubringen; sie ermöglicht es, im Moment präsent zu sein und das Unmittelbare zu erleben. Sie ist ein direkter und befriedigender Weg, sich des Hier und Jetzt zu vergewissern. Fotografie und Musik haben die Art und Weise, wie sie komponiert und arrangiert werden, gemeinsam. Fotografische Erzählungen sind am besten, wenn sie wie ein Lied aufgebaut sind: mit einem zentralen, energiegeladenen Körper, aber auch mit Brücken, Harmonien und Stille.

Sie haben den Leica Oscar Barnack Award 2021 gewonnen. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Der LOBA steht für ein immenses Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die meine Arbeit über all die Jahre hinweg unterstützt haben: meine Familie, die Redakteure, die meine Entwicklung verfolgt haben, meine Kollegen, die mich auf meinem Weg unterstützen, aber vor allem gegenüber all den Frauen, die mir erlaubt haben, sie während der gefährlichen Zeit der Inhaftierung zu fotografieren. Dieser Preis ermöglicht es mir, weiterzumachen, weiter an einem Werk zu arbeiten, das zu meiner Mission geworden ist.

Ana María Arévalo Gosen, 1988 in Caracas geboren, ist eine Kämpferin für Frauenrechte und Umweltthemen, die visuelle Geschichten als Waffe einsetzt. Sie ist National Geographic Explorer und Mitglied des Fotografinnenkollektivs Ayün Fotógrafas. Mit ihren Projekten, die unerschrockene Recherche mit intimen Geschichten verbinden, möchte sie positiven Einfluss ausüben. Ihr anspruchsvollstes Werk heißt Der Sinn des Lebens – die Geschichte vom Kampf ihres Mannes gegen Hodenkrebs. 2020 gewann sie den Lumix Photo Award und den Lucas Dolega Prize und im nächsten Jahr den LOBA für ihre Serie Días Eternos über die Bedingungen in venezolanischen Frauengefängnissen. Sie lebt in Bilbao, Spanien, und verbringt lange Zeit in Venezuela, um Projekte zu entwickeln. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Ana María Arévalo Gosen auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal.

Die Serie Sinfonía Desordenada ist vom 30. Januar bis zum 22. April 2022 in der Leica Galerie Madrid zu sehen.

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