In Zusammenarbeit mit der Autorin Isabelle Guisan wollte Pierre-Emmanuel Fehr eine besondere Atmosphäre in Griechenland einfangen. In den Jahren 2018 und 2019 waren die beiden in Athen und wurden zu Zeugen der Sinnsuche einer ganzen Generation. Menschen kreisen umeinander wie Atome, kommen zusammen und driften wieder auseinander. Fehr nutzte Elemente wie Blaufilter und Neonlicht, um Betrachtern die Träume der Athener Jugend näherzubringen, die nachts in der Stadt auftauchen. Im Interview erklärt er, warum sein Projekt Atomadas auch als Buch erschienen ist – für ihn so besonders ist, wie sein kinematografischer Stil die melancholisch-romantische Atmosphäre unterstrich und welche besondere Rolle die Farbe Blau dabei spielte.

Welche Herausforderung, der Sie sich in der Fotografie stellen, ist die größte?
Die Projekte zu finden, die für mich Sinn ergeben, je nachdem, wie ich zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben empfinde. Da ein Projekt zwei bis drei Jahre dauert, ist das nicht leicht vorherzusehen. Wichtiger als das Ergebnis ist natürlich der Weg, den ich einschlage, und die Erfahrungen, die ich dabei mache – also die Begegnungen mit Menschen. Dann versuche ich, das betreffende Projekt in einem Buch zu veröffentlichen, da das meine bevorzugte Art ist, Fotos zu betrachten – mehr als Ausstellungen –, aber auch weil der Aufbau einer Sequenz Aufregung pur bedeutet.

Haben Sie fotografische Vorbilder? Wer hatte Einfluss auf die Entwicklung Ihrer eigenen Perspektive?
Josef Koudelka. Wegen seines Engagements, seines Humanismus, der Vertiefung in seine Projekte, seiner Bescheidenheit, seiner Ästhetik. Er stellt sich immer in den Dienst der Erzählung. Ich konnte mich seinem Einfluss in meinem Buch über die Migrationskrise auf der Insel Leros nicht entziehen.

Ihr Schwerpunkt liegt auf sozialdokumentarischer und auf erzählerischer Fotografie. Zu Letzterer zählt Atoma. Inwiefern unterscheidet sich diese Serie von Ihren bisherigen Projekten?
Atoma unterscheidet sich sowohl inhaltlich als auch formal sehr von meinen bisherigen Projekten. Ich habe die Sozial- und Dokumentarfotografie sowie die Schwarzweiß-Fotografie hinter mir gelassen, um zum ersten Mal in Farbe zu fotografieren, auf eine sinnliche und erzählerische Art und Weise, mit Gefühlen und Texturen, um Athens Jugend darzustellen, ohne etwas in die Zukunft zu projizieren, sondern eher in der Schwebe der Nacht zu halten, wie in einem Traum. Atoma ist auch ein intimes Projekt, das meine eigene Jugend widerspiegelt.

Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?
Ich habe Isabelle Guisan 2016 kennengelernt, als wir unabhängig voneinander an Büchern über Migration arbeiteten. Wir hatten die Insel Leros im Abstand von zwei Jahren besucht und uns beide in das Leben der Flüchtlinge und Inselbewohner vertieft. Es folgte die Veröffentlichung von Leros, île au cœur de la crise migratoire (Leros, Insel im Zentrum der Migrationskrise) mit meinen Fotos und Texten von Laure Gabus (Georg Editeur, Genf, 2016) und Hors-sol (Bodenlos, Éditions de la Marquise, 2018) von Isabelle Guisan. Unsere Freundschaft führte uns zu Atoma, das Isabelle und ich über drei Jahre hinweg zusammengestellt haben. Wir haben so gearbeitet, dass die Texte und Fotos einen Dialog führen, ohne sich zu vermengen. Unser paralleles Eintauchen in die Welt griechischer Jugendlicher sind zwei Echos unserer eigenen unterschiedlichen Jugend und unserer unterschiedlichen Vorstellungen von der heutigen Jugend, die auch unsere Altersdifferenz berücksichtigen.

Hatten Sie einen bestimmten visuellen Ansatz für Ihre Serie im Sinn?
Ich hatte vor, mich von einem realistischen Athen zu entfernen. Ich suchte nach einer Vereinfachung der Farben, mit einem weichen und oft verschwommenen Szenario. Dafür brauchte ich Nachtatmosphäre, drei Neonlichter und ein Blaufilter auf dem Objektiv, um das Kunstlicht auszubalancieren.

Welche Stilelemente gefallen Ihnen und verwenden Sie häufig?
Die Kanten der Gebäude und der Mond sind allgegenwärtig. Sie symbolisieren den Rahmen und das, was über ihn hinausgeht.

Ihre Bilder haben etwas Kinematografisches an sich. Haben Sie analogen Film verwendet?
Ausschließlich. In erster Linie aus ästhetischen Gründen, denn Flächen wirken auf Film besser gemischt und gleichmäßiger. Abgesehen davon war es ein mühsames Unterfangen im Vergleich zu digitalen Aufnahmen, vor allem nachts bei künstlichem Licht. Der größte Vorteil bei der Verwendung von Film war, dass ich mich den Menschen, die ich fotografierte und mit denen ich Zeit verbrachte, näher fühlte. Es gab keine Möglichkeit, das Ergebnis sofort zu sehen, sodass es keine unmittelbaren Erwartungen gab und fotografische Geschehen und das Zurschaustellen störte den Fluss der Nacht nur wenig. Die Kosten für die Arbeit mit Film sind auch ein Anreiz, weniger Fotos zu machen. In einem Jahr habe ich 34 Filme verbraucht.

Ihre Aufnahmen sind atmosphärisch dicht und vermitteln die besondere Lichtstimmung der Nacht. Welche Rolle spielen die Farben in Atoma?
Die Serie ist hauptsächlich auf Blau aufgebaut. Drei weitere Farben tauchen in dem Buch immer wieder auf. Ich wollte, dass die Bilder so wenig Ablenkung und visuelles Rauschen wie möglich enthalten, um ein Gefühl und einen freien Raum zu schaffen, ohne eine bestimmte Erzählung oder Richtung vorzuschreiben. Für mich war es wichtig, das vorhandene Licht und keinen Blitz zu verwenden, um die Atmosphäre in der Interaktion mit dem Motiv zu spüren, sodass die Szene gelebt und nicht nur auf Film belichtet wurde. Die filmische Atmosphäre, von der Sie sprachen, ist die Zone zwischen Realität und Traum.

Wie wichtig ist für Sie die Nachbearbeitung der Aufnahmen?
Sie hat so gut wie gar keine Bedeutung, außer bei der Fotolithografie mit einer sanften Neuabstimmung der Farben auf einigen Bildern, damit die Kombinationen im Buch stimmig sind. Die richtige Intensität von Neonlichtern bei Gesichtern ist sehr wichtig. Bei der Verwendung von Film gibt es keinen Spielraum, um einen Fehler durch Nachbearbeitung auszugleichen. Das habe ich zum ersten Mal fast bei einem ganzen Film erlebt.

An welchen aktuellen oder zukünftigen Projekten arbeiten Sie?
Wenn ich das nur wüsste! Ich sage Ihnen, das ist meine größte Herausforderung.

Pierre-Emmanuel Fehr, 1984 in der Schweiz geboren, ist Autodidakt und lebt in Genf. Er konzentriert sich auf sozialdokumentarische und narrative Fotografie. Seine Arbeiten wurden sowohl national als auch international ausgestellt, unter anderem in Zürich, London, Genf, Berlin und Rom. Für seine Arbeit erhielt er 2016 den Prix de la Photographie Paris (PX3) in der Kategorie „Fachpresse“, den Prix Nicolas Bouvier in der Kategorie „Fotoreportage“ und den Moscow International Foto Award in der Kategorie „Redaktion“ (2. Platz). Außerdem wurde er für den 23. vfg Nachwuchsförderpreis ausgewählt. Seine letzten beiden Projekte hat er in Griechenland, auf der Insel Leros und in Athen, durchgeführt. Die dabei entstandenen Bücher sind bei Georg Editions (Genf, 2016 und 2020) erschienen. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Pierre-Emmanuel Fehr auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

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