Am 15. und 16. April 2019 fraß sich ein Großbrand durch weite Teile der Kathedrale Notre-Dame de Paris, eines der schönsten Beispiele der französischen Gotik und ein nationales Symbol. Bilder des lodernden Daches gingen um die Welt und bald war klar, dass der Wiederaufbau Jahre dauern würde. Tomas van Houtryve kehrte immer wieder auf die Baustelle zurück und dokumentierte die Restaurierungsbemühungen der vielen Handwerker. Neben Drohnenbildern und Aufnahmen mittels des nassen Kollodiumverfahrens setzte er die Leica SL2 ein, um beeindruckende Sichten aus ungewöhnlichen Perspektiven einzufangen. Van Houtryve sprach mit uns über seine Herangehensweise an die Fotografie, darüber, was die Baustelle für ihn bedeutet, die besonderen Qualifikationen, die für die Arbeit auf der Baustelle erforderlich sind und seinen Respekt vor dem Jahrhundertprojekt.
Während Renovierungsarbeiten 2019 hat das Dach der Kathedrale Notre-Dame Feuer gefangen und es kam zu schweren Beschädigungen des Bauwerks. Der Wiederaufbau begann 2021. Wie kam Ihr Fotoprojekt zustande?
Im Frühjahr 2020 hat mich National Geographic kontaktiert. Sie wussten, dass ich bestimmte Fähigkeiten besitze, die für eine solche Geschichte relevant sein können. Der schwierigste Teil war, überhaupt Zugang zur Kathedrale zu erhalten. Die französische Regierung hat eine öffentliche Einrichtung für die Wiederherstellung von Notre-Dame eingesetzt, mit der ich fünf Monate lang im Gespräch war, bevor ich endlich eine Arbeitserlaubnis erhielt. Die Baustelle war sehr gefährlich, ich musste lernen, den Kontakt mit giftigem Blei zu vermeiden, und trainieren, in der Höhe mit Seilen und Gurten zu arbeiten. Ich gewann bald das Vertrauen der Verantwortlichen und der Arbeiter, sodass ich überall in der Kathedrale arbeiten konnte.
Waren Sie in Paris, als das Feuer ausbrach?
Ja, ich war in meinem Haus in Paris, aber von dem Feuer habe ich durch die SMS eines Freundes auf der anderen Seite der Welt erfahren. Die Bilder der brennenden Kathedrale verbreiteten sich in den internationalen Medien schneller als sich das Feuer durch das Dach fraß! Meine erste Sorge galt einem lieben Freund, der direkt neben Notre-Dame wohnt. Als ich ihn in Sicherheit wusste, wandten sich meine Gedanken dem Gebäude zu und mich ergriffen die gleichen Emotionen wie so viele andere Pariser: ungläubiges Entsetzen. Notre-Dame ist ein Epizentrum der französischen Geschichte: die berühmteste gotische Kathedrale in Frankreich, quasi die Hauptfigur in Victor Hugos gefeiertem Roman. Dort krönte sich Napoleon. Sie spielte eine Rolle in der Französischen Revolution und bei der Befreiung von Paris im Zweiten Weltkrieg. Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die so viele historische Schichten bergen.
Mit welchen Recherchen haben Sie sich auf das Projekt vorbereitet?
Ich habe so viel wie möglich über die Architektur und über die umfangreiche Restaurierung im 19. Jahrhundert durch Eugène Viollet-le-Duc gelesen. Auch Hugos Notre-Dame de Paris (Der Glöckner von Notre-Dame) habe ich mir noch einmal vorgenommen und ich habe mir Bücher mit den frühesten Fotografien der Kathedrale besorgt. Ich habe mir zwei Ziele gesetzt: den historischen Moment zu dokumentieren und die Kathedrale als Ort der Inspiration zu nutzen.
Welche Kamera haben Sie für das Projekt verwendet?
Zumeist die Leica SL2 mit dem Vario-Elmarit-SL 1: 2.8–4/24¬–90 ASPH. Das ist eigentlich eine ungewöhnliche Konfiguration für mich, ich bin an eine kleine Leica M mit 35-mm-Objektiv gewöhnt.
Was waren die größten Herausforderungen bei der Arbeit vor Ort?
Vor allem die Bleikontamination. Das Dach bestand aus Blei, beim Brand hat der Rauch überall giftige Staubpartikel verteilt. Wenn ich die Baustelle betreten wollte, musste ich einen chemieresistenten Einweganzug anziehen, nach der Arbeit musste ich duschen. In besonders verseuchten Teilen der Kathedrale musste ich während der Arbeit eine motorunterstützte Atemschutzmaske tragen und vor dem Verlassen der Baustelle die Kamera abspülen. In dieser Situation war die SL2 mit einem Zoomobjektiv die beste Option. So gab es kein Risiko, dass beim Objektivwechsel Bleipartikel den Sensor verunreinigen. Die IP54-Abdichtung hat die Kamera vor Staub und Wasser geschützt. An Stellen ohne Bleikontamination habe ich auch andere Objektive verwendet, darunter das PC Super Angulon-R 1:2.8/28, das Summilux-M 1:1.4/35 und 75.
Welches Bild von Notre-Dame ist Ihnen besonders wichtig?
Ich habe einen Kranführer gebeten, mich genau an der Stelle zu positionieren, an der sich die Turmspitze vor dem Brand befand. Die Kamera ist direkt auf die Mitte des Lochs gerichtet. Man sieht die dunklen Trümmer, die der Brand hinterlassen hat, und ein sanftes Licht, das durch Netze über dem Altar scheint. Es war ein sehr berührender Moment, im Scheitelpunkt dieses historischen Orts zu sein und in das verwundete Gebäude zu blicken.
Sie sind für Ihr Spiel mit Licht und Schatten bekannt. Wo lag Ihr Fokus bei diesem Projekt?
Ich habe versucht, sehr aufmerksam zu sein und mich von Notre-Dames Architekten inspirieren zu lassen. Ich ließ meine Augen einer Linie oder einem Lichtstrahl folgen und der Rest war einfach Intuition.
Was wollen Sie mit diesem Projekt erreichen?
Ich kann mir keine Bauten mehr vorstellen, bei denen die Bauherren heute etwas anfangen und wissen, dass es erst einige Generationen später fertig sein wird. Die Idee des Mehrgenerationenbaus, der später restauriert und im Laufe der Zeit geschätzt wird, bewegt mich sehr. Es gibt nicht nur die Geschichte der Arbeiter auf der Baustelle, sondern auch der Maler und Fotografen. Ich war mir sehr bewusst, zu einer langen Reihe von Menschen zu gehören, die etwas zu dieser Kathedrale beigetragen und Zeugnis für sie abgelegt haben.
Der belgische Fotograf Tomas van Houtryve, 1975 in Kalifornien geboren, studierte Philosophie, Fotojournalismus und Fotografie an der University of Colorado. Mit seiner Serie Behind the Curtains of 21st Century Communism, die 2012 als Buch erschien, war er Finalist Leica Oskar Barnack Award. Im Jahr 2014 wurde van Houtryves Serie Blue Sky Days in Harper’s Magazine als größtes Portfolio in der damals 164-jährigen Geschichte der Zeitschrift veröffentlicht. 2019 war er erneut Finalist beim Leica Oskar Barnack Award mit der Serie Lines und Lineage. Seine Projekte haben bei Kulturinstitutionen und in der Presse große Aufmerksamkeit erregt und sind vielfach international ausgestellt worden. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Tomas van Houtryve auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.
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