Die Region Kantabrien leidet unter Stadtflucht und Überalterung, weite Landstriche sind nicht mehr bewohnbar. Auf der Suche nach den Ursachen entdeckte Adrian Alvarez die Bedeutung der lokalen Folklore und des traditionellen Lebensstils für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft und für die Weitergabe von Erinnerungen. Er sprach mit uns über seine Verbindung zur Region, darüber, wie er als Stadtbewohner ländliche Traditionen wahrnimmt und wie ein ursprünglich heidnisches Ritual die Menschen im Dorf Silió in ihrer Heimat verankert.
Auf Ihrer Website sagen Sie: „Der Kampf gegen das Verschwinden war für die letzten zwei Generationen einer der bedeutendsten sozialen Konflikte im ländlichen Spanien, ein Kampf, der fast zum Schweigen gebracht wurde.“ War Ihnen das Problem der Entvölkerung vorher bewusst?
Nein, ich habe nie hinterfragt, warum kleine Städte und Dörfer immer so dünn besiedelt sind. Nachdem ich ein paar Jahre in London gelebt hatte, hatte ich das Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren und die lauten Straßen und den schnelllebigen Lebensstil der großen Ballungsräume hinter mir zu lassen. Meine erste Idee für ein Projekt war es, durch das ländliche Spanien zu reisen und Porträts seiner Menschen, ihrer Folklore und Traditionen zu machen. Ich war entsetzt, wie wenig ich über mein eigenes Land wusste. Sobald ich mit meinen Protagonisten sprach, wurde mir klar, dass es eine Geschichte unter der Oberfläche gab.
Haben Sie eine besondere Verbindung zu Nordspanien?
Ich habe eine besondere Verbindung zu ländlichen Umgebungen im Allgemeinen. Ich bin in den Bergen von Madrid aufgewachsen. Die Familie meiner Mutter kommt aus Nordspanien, und ich habe mich dort immer wohler gefühlt als anderswo. Es ist ein Land, das reich an Folklore und Magie ist, Elemente, die tief in die Kultur und die ethnografische Identität eingebettet sind.
Was ist das Besondere an den Bewohnern von Silió?
Silió und seine Menschen repräsentieren alle gemeinsamen Merkmale der meisten ländlichen Gemeinschaften: einen starken Willen, ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl und Stolz auf Traditionen. Die Menschen sind unglaublich widerstandsfähig und fordern ihren rechtmäßigen Platz auf der Karte zurück. Sie sind edel und haben ein freundliches Wesen, und einige von ihnen sind wahre Freunde geworden.
Eine Zeremonie, Vijanera genannt, spielt eine wichtige Rolle im Leben der Einwohner von Silió. Inwiefern stärkt sie das Gefühl des Zusammenhalts?
Die Vijanera ist zu einem Instrument des Zusammenhalts der Gemeinschaft geworden, sie schafft einen gemeinsamen Raum für eine gemeinsame Aktivität, an der alle in der Stadt teilhaben können, insbesondere die Kinder. Das ist besonders wichtig, da das Hauptproblem, mit dem das ländliche Spanien konfrontiert ist, die Entflechtung der Generationen ist. Silió hat die Tradition der Vijanera zu etwas gemacht, das über Feiern, Folklore und Masken hinausgeht: Sie ist jetzt auch ein Werkzeug für Resilienz, ein Raum – physisch und metaphorisch – für verschiedene Generationen von Menschen, um Wissen, Kultur, Interessen und Erinnerungen zu teilen. Sie schafft eine Bindung zwischen den Bewohnern des Dorfs und ist etwas, mit dem sich jüngere Generationen verbunden fühlen können.
Was haben Sie bei der Zeremonie gefühlt?
Als ich die Vijanera zum ersten Mal erlebte, war das Wort, das ich benutzte „überwältigend“. Die Farben, die Kostüme, die Aufregung, der Lärm, die Trance … Beim zweiten Mal war mir schon eher bewusst, was mich erwartete, diese Erfahrung war also tiefer und viel reicher.
Mit welcher Kamera haben Sie das Projekt fotografiert?
Ich begann mit einer Leica M9 und einem Voigtlander-Objektiv, dem jüngsten 35-mm-Ultron. Die Farben der Leica suchen ihres gleichen, Kodak hat sich mit diesem CCD-Sensor selbst übertroffen. Später erwarb ich ein Leica Summicron-M 1:2/50, das die Arbeit weiter verbesserte, weil es eine sehr leistungsfähige Option für Porträts bietet. 2021 hat Leica mir freundlicherweise eine M10 und eine M10-R geliehen, um das Projekt abzuschließen. Inzwischen ist das M-System meine erste Wahl für fast jede Aufgabe.
Inwieweit ist es für Sie eine Herausforderung, für jedes Projekt eine eigene Bildsprache zu finden?
Bis zu dem Punkt, dass es in der Regel zur unerträglichen Besessenheit wird. Der klassische Fotojournalismus hat meine Arbeit schon immer stark beeinflusst, aber das kann mich auch einschränken. Es gibt Erzählungen, die sind zu komplex und reichhaltig, als dass man sie durch eine so restriktive Perspektive angehen könnte. Deshalb möchte ich immer mit jedem Projekt neue Ansätze der Fotografie ausprobieren.
Ist The Long Hunt ein laufendes Projekt?
Die ersten Bilder sind im Januar 2018 entstanden und das Projekt ist zu 99 Prozent abgeschlossen. Es gibt noch einige Lücken zu füllen, hoffentlich in naher Zukunft. In über vier Jahren habe ich rund acht Reisen unternommen. Ich weiß, dass es viele Kollegen gibt, die gern alles auf einer langen Reise erledigen. Ich brauche aber ab und zu ein bisschen Abstand und lasse die Arbeit ruhen, bis ich sie wieder mit frischen Augen betrachten kann.
Adrian Alvarez, 1992 in Madrid geboren, schloss 2015 sein Studium des Journalismus an der Universität Complutense Madrid ab. In London erwarb er an der University of the Arts einen M.A. in Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Seine Arbeit konzentriert sich auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Identität sowie auf die Art und Weise, wie Menschen mit ihrer Umwelt interagieren. Alvarez’ Arbeiten wurden von El País, ABC und Cadena SER veröffentlicht; Ausstellungen hatte er in Großbritannien, Frankreich und Spanien. Er hat auch an kommerziellen Aufträgen für Kunden wie LG Electronics und Warner Music Spain gearbeitet. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Adrian Alvarez auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.
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