„Ich möchte den Betrachter und seinen Blick auf das Wesentliche lenken, ihn vor Überflüssigem bewahren und eine Nähe zum Thema herstellen“ – pointierter als der Berliner Fotograf Tino Pohlmann für das 2008 erschienene Buch Blickfang – Deutschlands beste Fotografen kann man es kaum fassen. Der ehemalige Leistungssportler kennt den Radsport aus dem Effeff. Die Tour de France – oft auch Tour der Leiden genannt – hat zahlreiche Höhen und Tiefen erlebt. Pohlmann wollte sie zunächst über zehn Jahre begleiten und dokumentiert dieses sportliche Highlight bildgewaltig. Er zeigt die beeindruckende Landschaft, den fordernden Sport und die Gefühlswelt der Akteure und Besucher, wie es nur jemand kann, der die Innenansicht seiner Protagonisten bestens kennt.

Mittlerweile sind es fast 20 Jahre geworden, die Pohlmann die Tour mit der Kamera dokumentiert, seine Ergebnisse hat er in mehreren Büchern gebündelt, 2024 ist ein weiteres geplant. „Bilder entstehen im Kopf. Ideen entstehen im Kopf. Das Bild als Idee von etwas. Zudem die ständige Suche, es hört nicht auf …“, beschreibt Pohlmann seine Arbeit. Über das Wesen des Fotografen als ständig Suchenden sagt er: „Er trägt das Sehen in sich wie jemand, der Klavier ohne Noten spielen kann.“ Diese Passion sei nicht zu erlernen, die Technik hingegen schon. „Faszination, Freude und das Interesse an Mensch und Natur – banal gesagt – ist für mich der Kernpunkt meiner Arbeit.“ Das alles fing schon früh an, zunächst mit der reinen Beobachtung, später dann mit der fotografischen Dokumentation: „Mich faszinierten die Farben, die Schönheit und das Verschwinden dieser Momente“, beschreibt er seine frühe Wahrnehmung sich wiederholender Bewegungen.

„Aufgewachsen bin ich mit der analogen Fotografie, auch erste Auftragsarbeiten wurden noch mit Polaroid und Negativ entwickelt.“ Der seinerzeit langsamer getaktete Umgang mit der Fotografie hat ihn geprägt: „Nicht sofort die Kontrolle über das gemachte Bild zu haben – so lernt es sich ganz gut, in technischen Dingen recht sicher zu werden, um intuitiv arbeiten zu können. Heute stellt sich mir die Frage nicht, ob ich analog oder digital arbeite. Wichtig ist, dass ich starke Bilder produziere und der Welt da draußen zeige.“ Dabei sei das Bild schon lange kein Garant mehr für ein Abbild von Wirklichkeit. Überhaupt strapaziere dieser Begriff die Fotografie über Gebühr: „Das banale Bedürfnis eine Situation, das Erlebte als Erinnerung festzuhalten, um es mit anderen Menschen zu teilen, ist schon sehr viel und einzigartig.“

Warum Radsport, warum ausgerechnet die Tour de France? Woher rührt die Leidenschaft?

Ich saß als Neunjähriger das erste Mal auf dem Rennsattel, bin im DDR-Leistungssport aufgewachsen und war an der Sportschule. Die ganz großen Erfolge schienen mir aber nicht erreichbar, und so entschied ich mich letztlich gegen den Leistungssport und für die Fotografie. Das ist natürlich sehr gerafft, dazwischen kamen noch verschiedene Stationen, etwa die Zeit meines Design-Studiums, die mich stark beeinflusst hat. Dort wollte ich das erreichen, was mir im Rennsattel verwehrt blieb: Ich wollte zur Tour de France.

Der Plan ist erfolgreich aufgegangen, wie Ihre Bilder zeigen.

Ja, im Jahr 2004/05 wurde die Tour schließlich das Thema meiner Diplomarbeit, damals noch alles auf Kodak T-Max-Film fotografiert. Aus dem Gefühl Teil der Tour zu sein, entwickelte sich auch die Idee, das Radsport-Event über zehn Jahre zu begleiten. Ich wollte sehen, wie sich meine Sicht auf die Tour in den Jahren verändert, wie der Umgang mit dem digitalen Bild meine Arbeit als Fotograf beeinflusst, und ich wollte die Tour aus einer intimen Sicht dokumentieren: Die Stars, die kommen und gehen, den Betrug, die List und den Erfolg.

Und?

Ich sehe den Radsport als Metapher gesellschaftlicher Strukturen. Als ehemaliger Radrennfahrer wollte ich meine Sicht auf die Dinge sichtbar machen, meine Gefühle zum Sport und darüber hinaus. Die Emotion, die dir der Sport geben kann – Freude, Leid, Schmerz, aber auch endlose Glücksgefühle, bis hin zu Trancezuständen in der Belastung – wollte ich für mich interpretieren und darstellen. Ich wollte Dinge sichtbar machen, die vielleicht in unmöglichen Grenzbereichen liegen.

Neben der intimen Kenntnis der Szene, wie erreichen Sie das?

Zum Beispiel baue ich auf den Gipfeln der Berge Licht quasi wie im Studio-Set-up auf, um eine absolut künstliche Szenerie zu erzeugen, die oft erst im großen Print ihre ungeahnten Details preisgibt und die der Zuschauer an der Strecke selbst so nicht sehen kann: Das sind zum Beispiel die feinen aufstehenden Haare auf der Haut, der starre Blick in den Augen der Sportler. Das ganze Szenario fühlt sich so klar an, dass der Betrachter das Gefühl hat, in das Motiv einzutauchen. Wenn mir das gelingt, ist es das größte Kompliment meiner Arbeit.

Neben dem schon erwähnten Licht, welche Kameratechnik bietet Ihnen optimale Bedingungen?

Für mich kommt zuerst die Idee, dann das Werkzeug. Es muss zum Vorhaben passen. Ich wähle aktuell zwischen einer Leica SL2 und der Leica Q für Motive, in denen es viel zu erzählen gibt und in denen es auf den richtigen Moment ankommt. Zudem bin ich ein Freund von Bildwinkeln, die nicht zu weit von der menschlichen Wahrnehmung entfernt sind. Daher fotografiere ich mit Kleinbild-Brennweiten zwischen 28 (Leica Q) und maximal 90 mm.

Sie haben sich intensiv mit der Wahrnehmung beschäftigt. Gibt es jemanden, der Ihre Art zu fotografieren nachhaltig beeinflusst hat?

Die Arbeiten von André Kertész, Ansel Adams und Walker Evans haben mich sehr früh beeinflusst, aber auch die Maler Casper David Friedrich und Edward Hopper. Ich bin fasziniert davon, wie viele Jahre sie recherchiert und nach Dingen gesucht haben, die in ihre Arbeit einfließen. Beeindruckt hat mich vor allem ihre Art zu sehen und wie sie das Licht lenken. In diesem Zusammenhang sind auch Stephen Shore, William Eggleston, David Alan Harvey und Christopher Anderson zu nennen. Und die Arbeiten von Pier Paolo Pasolini und Michelangelo Antonioni, sie beeinflussen mich auch heute noch.


Der Berliner Fotograf Tino Pohlmann, 1976 in Frankfurt/Oder geboren, lebt seit 1998 in Berlin. Er hat 2005 sein Designstudium an der HTW Berlin abgeschlossen und 2013 gemeinsam mit einem Freund die Heynstudios in Berlin gegründet. Seit 2015 ist er freier Dozent für Fotografie an der HTW Berlin und arbeitet in den Bereichen Porträt, Sport, Landschaft und People.

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