Die Serie Wilde Erdbeeren erzählt von den süßen Früchten einer Kindheit in Sizilien, von Menschen, Orten, Gegenständen und Erinnerungen. Federica Cocciro fängt Bilder von all den kleinen und wichtigen Dingen in ihrem Leben ein, bevor sie verschwinden. Das Projekt der Leica Fotografin ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die sie gleichzeitig für die Zukunft bewahrt.

Was empfinden Sie bei wilden Erdbeeren?
Den Geschmack eines Songs, den ich schon einmal gehört habe, aber nicht mehr weiß wo. Es ist wie der Madeleine-Effekt, den Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt. Wilde Erdbeeren haben den Geschmack von etwas Vertrautem, von etwas, das Sie bereits erlebt haben, aber Erinnerungen sind so trügerisch. Wilde Erdbeeren sind meine Kindheit, meine Geschichte zwischen Realität und Fantasie, aber ich hoffe, dass alle einen vertrauten Geschmack auf der Zunge spüren.

Wo finden Sie wilde Erdbeeren und warum heißt Ihre Serie so?
Den Titel hat Ingmar Bergmans Film Wilde Erdbeeren inspiriert. Er handelt von einem alten Mann, der auf sein Leben zurückblickt und an die Orte zurückkehrt, an denen er aufgewachsen ist, und über die Süße der Jugend und das Bedauern, das er stets verspürt, nachdenkt. Das ist der gleiche Prozess, den ich bei meiner fotografischen Recherche verfolge. Aber der Titel bezieht sich nicht nur auf den Film, zu meiner Serie Wilde Erdbeeren gehören auch all die Menschen, die in meiner Kindheit eine Rolle spielten, süße Früchte, die in einem grausamen und schönen Land aufwuchsen – Sizilien, ein Land, in dem es so schwer fällt zu leben, von dem man sich aber unmöglich fernhalten kann.

Welche Idee steht hinter diesem Projekt?
Ich versuche, mit verschiedenen fotografischen Sprachen eine Geschichte zu erzählen – Porträt, Stillleben, Reportage, Landschaft … Und das Ergebnis ist im Moment eine Sammlung von Erinnerungen, Menschen, Dingen, Empfindungen und Träumen in einzelnen Bildern. Aber jede Stecknadel auf dieser Landkarte steht nicht für sich allein, sondern ist mit allen anderen verbunden. Wie in Träumen gibt es keine gerade Straße. Das Leben ist eine Geschichte der Irrungen.

Ist das ein Versuch festzuhalten, was verloren gehen könnte?
Das Projekt ist ein Versuch, meine Kindheitserinnerungen in Bildern festzuhalten. Je älter ich werde, desto mehr verliere ich. Erinnerungen sind manchmal konfus und ich versuche, so klar wie möglich zu zeigen, an was ich mich in dieser „perfekten“ Zeit erinnere. Das ist der Grund, warum in einigen Bildern Realität und Vorstellung verschwimmen. Sind all die Dinge, an die ich mich erinnere, wahr? Sind sie wirklich passiert? Oder sind viele Erinnerungen eines Kindes darunter, das sich Dinge vorstellte und Dinge in seinen Tagträumen sah? Vermutlich. Magie ist das Herzstück meines Projekts.

Sie beziehen sich auf ein Gedicht von William Wordsworth, das von Veränderung und vergangener Schönheit spricht. Ist Veränderung etwas Dramatisches?
Veränderung ist dramatisch, wenn wir nur die Dimension Verlust sehen. Doch wir müssen bedenken, dass Veränderung unvermeidlich ist, weil sie ein Teil des menschlichen Lebens ist, der nicht unbedingt schlecht sein muss. Die Welt von Wilde Erdbeeren ist erfüllt von Melancholie wegen einer Zeit, die nie wiederkommen wird. Aber gleichzeitig müssen wir, wie Wordsworth sagt, die Veränderung akzeptieren und so gut wie möglich das genießen, was übriggeblieben ist. Das ist eine Art Mantra in meinem Leben. Nur ein Beispiel: Meine Verwandten haben das Haus unserer Familie auf Sizilien verkauft, in dem ich aufgewachsen bin und wo Wilde Erdbeeren beginnt. Es war ein Trauma für mich, jemanden zu sehen, der in unserem Haus lebt, dem Haus, das mein Großvater mit seinen Händen gebaut hat. Im Laufe der Zeit begriff ich, dass man nicht gegen die Umstände des Lebens kämpfen kann. Inzwischen bin ich mit der Dame befreundet, die jetzt in dem Haus lebt, und kann dorthin, wann immer ich möchte.

Wie kann man Veränderung fotografisch festhalten? Wie gehen Sie bei der Auswahl der Motive vor?
Es geht nicht in allen Bildern um Veränderung. Manchmal spiele ich mit der Fotografie, um die Welt von früher so genau wie möglich nachzubilden. In einigen Bildern habe ich den Kontext gelöscht und zeige nur die Details einer Handlung, eines Orts oder einer Person. So erzeuge ich die Illusion, dass die Zeit nie wirklich vergangen ist. Andererseits ist es eine lange Arbeit: Ich fotografiere nur einen Monat im Jahr, die gleichen Menschen und Orte, dokumentiere die unvermeidlichen Veränderungen, füge aber auch Schritt für Schritt etwas Neues hinzu.

Leere Kaffeetassen, Obst, ein Tisch – manchmal wirken die Bilder sehr spontan.
Mein Entscheidungsprozess darüber, was ich mit meiner Fotografie darstellen möchte, ist zum Teil spontan: Beispielsweise sehe ich Dinge, die mich an meine Kindheit erinnern, also nehme ich sie auf, aber manchmal haben sich die Dinge so sehr verändert, dass ich die Situation so nah wie möglich an der Vergangenheit nachstellen muss.

Wie lief die Arbeit mit den Kameras?
Im ersten Jahr habe ich eine Leica M10 benutzt und sie war perfekt: klein und diskret. Die M10 gibt mir die Zeit, darüber nachzudenken, was und wie ich etwas sagen will – ein großartiges Werkzeug, mit dem ich mein Projekt von den Wurzeln aus denken und entwickeln konnte. Im zweiten Jahr habe ich eine Leica SL2-S mit einem 24–90er verwendet, die Kamera, die ich auch für meine kommerziellen Arbeiten nutze. Sie gibt mir die Freiheit, die Bildsprachen von Porträts über Stillleben bis hin zu Landschaften zu entwickeln.

Etwas für die Zukunft bewahren – ist das Ihr Anspruch an die Fotografie?
Ich denke, ich folge diesem Weg, ja. Ich liebe an der Fotografie, die Geschichten der Menschen zu erzählen. Für mich bedeutet das, ihr Leben, ihre Liebe, ihren Schmerz, ihre Träume und ihre Lehre zu bewahren – von den kleinen Details, die ihre Identität schaffen, bis hin zu Szenen des Alltags. Es ist etwas, was ich für sie, für mich und für all jene mache, die in das Leben anderer eintauchen wollen, indem sie eine Brücke zu ihrer eigenen Geschichte finden.

Federica Cocciro, Jahrgang 1989, ist in Mailand geboren und aufgewachsen. Sie hat einen Abschluss in italienischer Literatur und Verlagswesen. Als freischaffende Fotografin arbeitet sie an persönlichen Projekten und ist Autorin von Bildberichten über soziale Themen, die in nationalen Zeitungen und internationalen Magazinen erscheinen. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Federica Cocciro auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal.

Leica SL2

Es ist Ihre Entscheidung.