Kiana Hayeri lebt und arbeitet seit über acht Jahren in Afghanistan. Ihre Fotografie hat vor allem auf Frauen und Mädchen im Blick, die unter Kriegsbedingungen in der islamischen Gesellschaft leben. Ihr geht es insbesondere darum, alternative Bilder aus dem Alltag der Menschen einzufangen, die Auswirkungen jahrzehntelanger Konflikte zu dokumentieren und gleichzeitig auf die Geschichten, die Stärke und die Würde des Einzelnen aufmerksam zu machen. Seit August letzten Jahres, als die westlichen Truppen abzogen und die Taliban die Macht zurückeroberten, hat sich die Situation für Frauen verschlechtert. Nach mehr als einem Jahr zeigt sich, dass die neuen Herrscher viele Versprechen brachen und die Menschenrechte missachten: Die Lage ist insbesondere für Frauen verheerender denn je. Umso wichtiger sind Bilder aus dem Land. Trotz der schwierigeren Umstände will Hayeri weiterhin als Fotografin arbeiten, um sich für Frauenrechte einzusetzen.

Frau Hayeri, beschreiben Sie uns bitte kurz Ihre LOBA-Serie?
Meine Arbeit konzentriert sich auf afghanische Frauen: auf die Frauen, die die US-Truppen ihren Kriegszielen zufolge befreien wollten. Heute fühlen sich viele dieser Frauen zurückgelassen. Während ich über die Fronten und die dramatischen Ereignisse des Krieges berichtetete, habe ich auch versucht, eine andere, alternative Erzählung des längsten Kriegs der USA einzufangen. Die Konsequenz des Kriegs besteht darin, dass er die Menschen nicht nur ihrer Würde beraubt, sondern auch unsere Fähigkeit verkümmern lässt, das gleiche Mitgefühl für alle zu empfinden. Afghanistan ist ein Ort der Extreme, das Beste und das Schlechteste der Menschheit leben dort Seite an Seite: Angst und Mut, Verzweiflung und Hoffnung, Leben und Tod.

Sie waren 2021 in Kabul und mussten die Rückkehr der Taliban erleben.
Ja, im vergangenen Sommer haben wir alle ungläubig zugesehen, wie 20 Jahre Fortschritte bei der Meinungsfreiheit, den Frauenrechten und der Bildung in 20 Tagen einfach beiseite gewischt wurden, als das Land rasend schnell in die Hände der Taliban fiel. Heute sind all diese Errungenschaften eingeschränkt, Angst und Unsicherheit haben ihren Platz eingenommen. Afghanistan ist immer noch ein Land mit offenen Wunden, das um Heilung ringt.

Wie ist der Titel Ihrer Serie entstanden?
Die Redensart habe ich bei einer afghanischen Therapeutin aufgeschnappt, als ich an einer Geschichte über den Stand der psychischen Gesundheit afghanischen Frauen arbeitete.

Welche Bilder haben Sie für Ihre LOBA-Serie ausgewählt?
In diesem Portfolio finden Sie Geschichten von Frauen, die in der Ermordung ihrer Ehemänner ihren einzigen Ausweg aus häuslicher Gewalt sahen, und die jetzt, obwohl sie im Gefängnis sitzen, Frieden gefunden haben. Geschichten von Mädchen aus einigen der entlegensten Regionen, die stundenlang, bei Sonne oder Regen, zur Schule laufen. Geschichten von Müttern, die um den Verlust ihrer Teenager-Töchter trauern, die einen brutalen Tod starben, als sie aus ihrer Schule im Westen Kabuls flüchteten. Die Geschichte einer Frau, deren sich Söhne sich unterschiedlichen Konfliktparteien angeschlossen haben. Sie hat eine offene Wunde am Hals, von der die Ärzte glauben, dass Trauer die Ursache sei.

Wie haben Sie die letzten Jahre in Afghanistan erlebt?
Das ist eine schwer zu beantwortende Frage; weil diejenigen unter uns, die dort leben, Jahr für Jahr eine andere Erfahrung gemacht haben. Unser Alltag im Jahr 2014 war anders als 2016, anders als 2019, 2021 und heute.

Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?
Geografisch gesehen ist es möglich ist, überall hin zu reisen, aber die Menschen sind ängstlich und zögern oft zu sprechen. Auch im letzten Monat hat das islamische Emirat keine Mühe gescheut, uns die Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Uns den Zugang ganz zu kappen, fehlt ihnen der Mut, aber sie stellen sicher, dass wir so viel Energie, Zeit und Ressourcen verschwenden, bis wir aufgeben.

Wie kommen Sie mit den Menschen in Kontakt, die Sie porträtieren?
Meine Kollegen vor Ort und ich selbst haben in den Jahren, die ich dort lebe, ein Netzwerk aufgebaut. Wir finden die Menschen, die wir finden müssen. Manchmal muss man einfach an einem Ort auftauchen und auf das Beste hoffen. Es ist aber wirklich Teamwork. Einige der Menschen, mit denen ich arbeite, hinterlassen einen Eindruck bei mir und ich versuche in Kontakt zu bleiben. Entweder am Telefon oder über WhatsApp.

Welche Verantwortung sehen Sie für sich als Fotojournalistin?
Bei so vielen Bildern, die jeden Tag entstehen, glaube ich, dass sich unsere Rolle als Journalisten verändert hat. Ich erinnere mich, dass Stephan Mayes mir einmal ungefähr Folgendes sagte: „Das Zeitalter der Einzelbilder ist zu Ende. Es ist jetzt ein Strom von Bildern, der Narrative aufbaut und Geschichten erzählt.“ Wir müssen als Fotojournalisten nachdenklicher sein und diese Ströme von Bildern zum Fließen bringen, um die öffentliche Meinung und Wahrnehmung zu verändern.

Was bedeutet der LOBA Ihnen persönlich?
Er bedeutet mir wirklich viel, zumal die Jury erwähnte, dass mein Engagement in Afghanistan bewundernswert und herausragend sei. Ich hoffe, dass der Preis und die Ausstellung wieder etwas Aufmerksamkeit erregen und afghanische Menschen, insbesondere Frauen, noch ein wenig länger in den Nachrichten halten. Ich hoffe, dass meine Fotos dazu beitragen, die Kluft zu überbrücken und diesen Leuten, denen alles genommen wurde, was sie hatten, ein menschliches Antlitz zu verleihen.

Kiana Hayeri wurde 1988 in Teheran geboren, wo sie aufwuchs, bevor sie als Teenager nach Toronto auswanderte. 2021 erhielt sie die Robert Capa Gold Medal für ihre Serie Where Prison Is a Kind of Freedom, die das Leben afghanischer Frauen im Gefängnis von Herat dokumentiert. 2020 erhielt sie den Tim Hetherington Visionary Award und wurde die sechste Empfängerin des James Foley Award for Conflict Reporting. Sie ist Senior TED Fellow und arbeitet regelmäßig für die New York Times und National Geographic. Sie lebt in Kabul. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Kiana Hayeri auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal.

Alle Bilder aus Kiana Hayeris LOBA-Serie und weitere Informationen finden Sie auf der LOBA-Website. Der LOBA-Katalog 2022 enthält auch alle Bilder und ein weiteres Interview mit der Fotografin.