Die französische Fotografin ist eine genaue und beharrliche Beobachterin. Auf vielen Reisen hat sie mit großer Sensibilität die Lebenswelten ganz unterschiedlicher Menschen und Regionen festgehalten. Eine ihrer bekanntesten Serien ist ein fotografisches Porträt von Jugendlichen im Ferienlager Artek. Viermal reiste Doury seit 1994 in das bereits 1925 gegründete Pionierlager an der Schwarzmeerküste, das in der Nähe der kleinen Stadt Hursuf auf der Halbinsel Krim liegt. Die fast hundertjährige Geschichte von Artek war wechselvoll: Zunächst als provisorisches Zeltlager gegründet, wurde es ab den 1950er-Jahren im Einklang mit der sowjetischen Ideologie zu einem modernen Freizeit- und Ferienlager ausgebaut. Mit dem Ende der Sowjetunion begann ein neues Kapitel: Der Betrieb wurde kommerzieller, doch 2009 drohte aufgrund von Finanzproblemen die Schließung, aber die Ukraine führte das Lager weiter. Nach der Annexion der Krim 2014 setzte die Russische Föderation den, nun wieder deutlich ideologischer ausgerichteten, Betrieb fort.

Dourys Serie ist weit mehr als ein nostalgischer Blick, sondern überzeugt vor allem durch ihre einfühlsame Bildästhetik. Ursprünglich war sie an den Aktivitäten vor Ort interessiert, doch schnell verlagerte sich ihr Fokus auf die Jugend als verletzlichste Phase eines Lebens. Bei ihr stehen Momente der Einsamkeit, der Zerbrechlichkeit, der Verwandlung des Körpers, der Entdeckung des Anderen, des Spiels der Verführung im Mittelpunkt – jenseits politischer Ideologie.

Wie erfuhren Sie von Artek und was war der Auslöser, dort zu arbeiten?
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie ich von diesem Pionierlager erfahren habe, aber ich wollte diese geheime Miniwelt eines noch etwas verschlossenen Landes entdecken. Ich besuchte Artek zum ersten Mal im Sommer 1994. Mich interessierte zu sehen, was aus diesem Ferienlager auf der Krim, dem größten Pionierlager der Sowjetunion, geworden war, als die Union und die Pioniere verschwanden. Der Zeitung Libération hatte ich eine Reportage vorgeschlagen und drei Jahre später wollte die Zeitschrift Marie-Claire France die Serie veröffentlichen und schickte mich mit einer Journalistin noch einmal dorthin. Danach hatte auch das deutsche Magazin Mare Interesse an der Arbeit und bat mich, erneut dorthin zu reisen. Von diesem Zeitpunkt an begann ich, das Ferienlager mit anderen Augen zu sehen. Es waren nicht mehr so sehr die verschiedenen Aktivitäten der Kinder, die mich interessierten, sondern die Beziehung der Jugendlichen untereinander. Ihre Emotionen inmitten der Aktivitäten, ihr soziales Leben, diese neue und flüchtige Zeit. Ich kehrte zwei Sommer lang, 2002 und 2003, zurück, um diese Arbeit fortzusetzen.

Wie haben Sie die Genehmigung erhalten? Konnten Sie sich während Ihrer Besuche frei bewegen?
Ich hatte Hilfe von Freunden, die mit den Behörden kommunizieren konnten. Bei meinen ersten Reisen wurde ich immer von einer Person der Verwaltung begleitet, aber ich hatte die Freiheit, das Lager zu besuchen.

Wie haben Sie das Vertrauen der Jugendlichen gewonnen?
Bei meinen ersten Besuchen verfolgte ich jede Aktivität der Kinder und Jugendlichen, von der Morgengymnastik, den Tanzproben, der Siesta bis hin zu den organisierten Abenden. Der Ansatz war hauptsächlich kollektiv. Als ich dann mit meiner Tochter, die Artek in den Ferien besuchen wollte, zurückkehrte, hatte ich einen anderen Ansatz. Ich wollte nicht mehr den Alltag der jungen Leute dokumentieren, sondern sie außerhalb ihrer Aktivitäten in ihren „Auszeiten“, in ihren freien „Träumereien“ begleiten.

Was hat einen normalen Tag im Sommercamp ausgemacht?
Die Aktivitäten am Morgen begannen früh mit einer Gymnastikstunde, gefolgt von einem Frühstück. Danach folgte den ganzen Tag über Sporttraining auf Sporttraining, Wassersport, Tanzen etc. Ich verstand endlich, warum dieses Land so viele Medaillen bei den Olympischen Spielen gewann!

Ihre Serie entstand mit einer Leica M?
Ja, ich habe wie immer mit meiner Leica M6 und dem Summilux-M 1:1.4/35 ASPH. fotografiert.

Haben Sie noch Kontakt zu den jungen Leuten von damals?
Einige haben mich kontaktiert, nachdem sie meine Fotos im Internet gesehen hatten, und wollten wissen, ob sie Fotos von sich haben könnten. Für solche Nachfragen habe ich Exemplare meines Buches Artek aufbewahrt, die ich verschicken kann.

Artek ist keine klassische Dokumentation – wie beschreiben Sie die Serie aus heutiger Sicht?
Ich habe im dokumentarischen Stil begonnen, aus dem sich dann ein persönlicherer Ansatz entwickelte, in dem sich Realität und Fiktion vermischten. Die Momente der Pause, die Zeit zwischen den Aktivitäten waren günstig für die Atmosphäre, die ich suchte. Diese Intervalle zwischen den verschiedenen Aktivitäten, sind typisch für dieses Übergangsalter: der Raum zwischen den Lebensaltern, das Leben in zwei Welten. Das Ferienlager ist der Ort schlechthin, an dem man diesen Übergang beobachten kann. Ich glaube, das ist es, was ich in den meisten meiner Arbeiten anstrebe: das Zeitlose wiederzugeben.

Claudine Doury, 1959 in Blois nahe Orléans geboren, arbeitete nach dem Studium der Journalistik zunächst als Bildredakteurin, bevor sie sich ganz der eigenen Fotografie widmete. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leica Oskar Barnack Award 1999 für ihre Serie Die letzten Nomaden Sibiriens. Ihre meist als Langzeitprojekte entstandenen Serien wurden international ausgestellt und veröffentlicht. Seit 1991 ist sie Mitglied der Agentur VU’. Sie lebt und arbeitet in Paris. Artek erschien 2004 im Verlag La Martinière mit einem Vorwort von Christian Caujolle. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Claudine Doury auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal.

Die Ausgabe 8/2022 der LFI präsentiert Claudine Dourys Serie Loulan Beauty.

Bis Januar 2023 ist derzeit die Ausstellung Claudine Doury – Zwischen Magie und Wirklichkeit in der Leica Galerie Wetzlar zu sehen.

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

Jetzt M-System online entdecken!