Wojciech Grzedzinski versteht sich als Beobachter der Ereignisse und des Lebens: Seine Fotoserie berichtet von Menschen in der litauischen Grenzregion zu Polen, die mit dem Fall der Sowjetunion nicht nur ihre Sprache, sondern auch ihr Zugehörigkeitsgefühl verloren haben. Ein einfühlsames Porträt über ein Dasein in der Schwebe, in Vergänglichkeit und Aufbruch.

Wofür steht der Titel Ihres Projekts?
Eine Invocatio ist eine Einführung, in diesem Fall in eine unendliche Geschichte, von der ich nur Fetzen eingefangen habe. Pan Tadeusz czyli ostatni zajazd na Litwie (Pan Tadeusz oder der letzte Einritt in Litauen), das bedeutendste Werk von Adam Mickiewicz, der sowohl in Polen als auch in Litauen als Nationaldichter gilt, beginnt mit einer Invocatio. Dass beide Länder Mickiewicz für sich reklamieren, spiegelt ihre komplizierte Geschichte wider.

Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?
Ich habe vor Jahren Kulturanthropologie studiert. Zur Feldforschung war ich in Litauen, aber ich habe keine Interviews geführt, sondern fotografiert. Ein bestimmter Zeittransfer hat mich fasziniert. Das Schweben zwischen zwei Realitäten. Zeitgenossenschaft und ein Gefühl für das, was vergangen ist. Die Stimmung war so stark, dass sie die Gegenwart bestimmte. Gleichzeitig verbindet eine schöne Feier der Tradition die Gegenwart mit der Vergangenheit. Ich wollte Vergänglichkeit und Verlassen zeigen, eine Reflexion darüber, dass es in meiner näheren Umgebung Themen gibt, die noch fotografiert und gezeigt werden müssen.

Es geht in Ihrem Projekt um die polnische Minderheit in Litauen. Was sagt es über den Zerfall der Sowjetunion, über Geschichte und wie man damit umgeht?
Es geht um einen kleinen Teil dessen, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschah, aber der ist einigermaßen universell. Wie wichtig ist die Sprache, die wir in unser Leben lang sprechen? Ich habe ältere Menschen getroffen, weit über achtzig, die ihr ganzes Leben im selben Haus verbracht haben. Dort wurden sie geboren und dort werden sie auch sterben. Ihre Heimat lag immer in der Nähe der Grenze. Eine vertraglich festgelegte Linie, mehr oder weniger bewacht. Und plötzlich, 1991, lebten sie im freien Litauen mit der Amtssprache Litauisch, die sie nie gelernt hatten. Plötzlich lebten sie in einem Land, dessen Sprache sie nicht kannten. Sie kamen mit keiner offiziellen Institution mehr zurecht. Obwohl sie frei waren, lebten sie in einer Art Getto ohne Mauern, das auf ihre kleine Gemeinschaft beschränkt war. Eine Sprache, die man nicht spricht, ist wie eine Mauer.

Wie haben die Leute auf Sie reagiert?
Ich versuche, einer Person immer so nah wie möglich zu sein, das ist für mich das faszinierendste Thema in der Fotografie. Eine Quelle der Emotionen. Ich kommuniziere so viel wie möglich, um die Menschen, die ich fotografiere, zu verstehen und kennenzulernen, auch wenn es nur ein kurzes Treffen ist. Sie waren glücklich, ihre Geschichten teilen zu können. Die Fotos entstanden zufällig, irgendwann während der Unterhaltung.

Welchen fotografischen Ansatz haben Sie verfolgt?
Ich versuche immer, auf die gleiche Weise zu arbeiten. Ich möchte so unsichtbar wie möglich bleiben und versuche, mich nicht mit der Umgebung zu beschäftigen. Ich schaue auf das Leben. Dafür ist die kleine Leica M genau die richtige Kamera. Technisch gesehen, setze ich das Medium einfach dem Licht aus und lasse das Bild von der Natur malen. Ich bearbeite meine Fotos nur wenig.

Betrachtende fasziniert die bunten Wärme Ihrer Bilder, die vom Leben, aber auch von Traurigkeit durchdrungen scheinen.
Für mich ist eine Farbe eine Form, um diese Geschichte zu erzählen. Eine Erzählform, die zu der Sehnsucht passt, die meine Subjekte oft zum Ausdruck bringen. Sie erinnerten sich an die schönsten Jahre ihres Lebens und zeichneten eine farbenfrohe Vision vergangener Jahre, die mit der Zeit verblasste.

Wie wichtig ist diese Serie heute – angesichts neuer Kriege und Konflikte?
Ich glaube, dass es ein ziemlich universelles Thema ist, das viele Minderheiten in der postsowjetischen Realität betrifft. Die Verschiebung einer Grenze schließt immer eine Gruppe von Menschen von der aktiven Teilnahme an der neuen Realität aus. Leider haben die russischen Autoritäten dieses Problem zynisch als Vorwand für eine Aggression in der Ukraine benutzt. Krieg löst keine Probleme. Es verursacht nur mehr Leid. Es betrifft jeden und verursacht Wunden, die Generationen lang nicht heilen.

Was hält die Zukunft für Menschen bereit, die in einem „Niemandsland“ leben? Was können Bilder wie Ihre für sie bewirken?
Ich bin neugierig zu erfahren, inwieweit Fotografie etwas verändern kann – in diesen modernen Zeiten, in denen uns ein Bilder-Tsunami überflutet. Ich hoffe, dass diese Fotos ein gemeinschaftliches Dokument bleiben und diese Zeit vor dem Vergessen bewahren. Eine der Funktionen der Fotografie ist es, die Zeit zu bewahren und so die Erinnerung und Würde der fotografierten Menschen zu sichern. Viele meiner Charaktere sind jetzt tot. Es war der letzte Moment, um ihre Erinnerungen aufzuheben.

Im Zentrum der Fotografie des 1980 in Warschau geborenen Wojciech Grzedzinski stehen Situationen, denen Menschen, ungeachtet wo auf der Welt, ausgesetzt sind. Seit Jahren berichtet er über bewaffnete Konflikte und deren Folgen in Afghanistan, Georgien, im Irak, Libanon, Südsudan und in der Ukraine. Seine Arbeiten wurden bei World Press Photo, dem Visa D’Or, NPPA und den Sony World Photography Awards ausgezeichnet. Grzedzinski ist Mitglied des Polnischen Verbands der Kunstfotografen und er war von 2011 bis 2015 offizieller Fotograf des Präsidenten der Republik Polen. Mehr über die Fotografie von Wojciech Grzedzinski erfahren Sie auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

Leica M

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.