Marc De Tollenaere lebt in Venedig, wo er auch als Fremdenführer arbeitet. Das Gesicht der Stadt verändert sich weiter dramatisch, der Tourismus ist ständig auf dem Vormarsch. Lebten in den 1950er-Jahren noch 175.000 Einheimische in der Stadt, ist ihre Zahl heute auf 50.000 geschrumpft. In Venedig halten sich jedes Jahr Millionen von Touristen auf. Mit seiner Serie One, No One and Fifty Thousand will De Tollenaere Erinnerungen an Venezianer schaffen, die in ihrer Stadt verwurzelt sind. Mit seinen Leica Kameras erhielt er Zugang zu Häusern, die ein traditionsreiches und originelles Leben in ihren Wänden bezeugen. Im Interview spricht er darüber, wie seine Hommage an Venedig entstanden ist, warum Fotografie mit Erinnerungen verbunden ist und warum der horror vacui, die Angst vor der Leere, der rote Faden dieses Projekts ist.

Welche persönliche Bedeutung hat Venedig für Sie?
Venedig bedeutet für mich das Aufeinandertreffen und die Vermischung mehrerer Kulturen, aber es ist auch ein Ort, an dem Altes und Neues koexistieren, an dem ein wurzelloser Mensch wie ich in eine tausendjährige Kultur eintauchen und Teil von etwas Großem sein kann, das schon lange existiert und nach Jahrhunderten immer noch darauf wartet, entdeckt zu werden.

Was hält die Stadt für Sie als Fotograf bereit?
Venedig ist ein Ort, an dem ich gern auf Schatzsuche gehe, jeder Tag gibt mir eine neue Chance fündig zu werden. Ich habe schon einige solcher Schätze gefunden. In einem venezianischen Haus lebt nicht nur die Familie, die dort gerade wohnt, sondern es gibt auch viele Schichten früherer Leben, die Jahrhunderte zurückreichen.

Welche Absicht steht hinter diesem Projekt?
Die seit 1000 Jahren bestehende Kultur von Städten mit bedeutender Kunst steht auf der ganzen Welt durch die Invasion des Hit-and-Run-Tourismus, durch Spekulation und die Transformation der städtischen Umwelt unter Druck. Nachbarschaftsläden und Kunsthandwerker müssen Läden weichen, die touristische Junk-Artikel anbieten. Wohnhäuser werden zu Hotels, Ferienwohnungen oder Bed & Breakfasts.

Worauf lag Ihr Fokus bei der Erstellung dieser Serie?
Ich wollte ein zeitgenössisches Fresko schaffen, mit Menschen, Quartieren und unveröffentlichten Geschichten. Hier geht es um die Venezianer, porträtiert in ihren Häusern von einem stoischen, neugierigen Künstler mit einer Leica. Ziel war es, eine Welt für immer einzufangen, die zunehmend in Gefahr ist.

Worauf bezieht sich der Titel One, No One and Fifty Thousand?
Die Eins steht für die Individualität einer Person; Niemand für die Einwohnerinnen und Einwohner, die in den Städten mit bedeutender Kunst überleben werden, und die Fünfzigtausend für die Menschen, die heute noch in Venedig leben. 1951 waren es mehr als dreimal so viele, 174.808 – das ist ein Alarmzeichen für vergleichbare Städte.

Wann sind Ihre Aufnahmen entstanden?
Ich habe im März 2013 angefangen und das Buch im Juli 2022 veröffentlicht. Das letzte Bild für das Buch entstand im Juni 2022, aber ich werde dieses Projekt wohl noch viele Jahre fortsetzen.

Wie sind Sie mit den Menschen in Kontakt gekommen?
Am Anfang war es natürlich sehr schwierig: Um erste Bilder zu produzieren, habe ich mit einigen Freunden begonnen. Nachdem ihnen klar war, wonach ich suchte, meldeten sich andere Freunde und berichteten über einen Ort oder eine Person, die ich unbedingt für mein Projekt sehen oder treffen solle. Dank der Abzüge, die ich allen gab, die ich fotografierte, gab es einen Dominoeffekt und im Laufe der Jahre erhielt ich viele Telefonanrufe und E-Mails von Leuten, die interessante Häuser zum Fotografieren kannten oder von ihnen gehört hatten. Mit Künstlern war es einfach, weil sie es gewohnt sind, Menschen zu empfangen. Es waren auch viele Hundeliebhaber darunter, obwohl es in Venedig kaum eigene Gärten gibt. Mir fiel auch auf, dass es ganz wenige Fernseher, aber viele Bücherregale gab.

Warum haben Sie sich entschieden, in Schwarzweiß zu fotografieren?
Ich habe Schwarzweiß verwendet, weil ich dann in jeder Situation fotografieren kann, ohne dass mir Farbe in die Quere kommt. Nur weil es irgendwo eine starke Farbe gab, wollte ich kein Bild auslassen. Zudem gibt mir Schwarzweiß die Möglichkeit, so mit Licht und Schatten zu spielen, dass der Aufmerksamkeit der Betrachtenden die wichtigen Teile des Bilds nicht entgehen.

Welche Botschaft möchten Sie mit Ihrer Serie vermitteln?
In der Fotografie geht es um Erinnerung – und Erinnerungen brauchen wir alle. Ich denke, mein Buch ist schon deshalb sehr interessant, weil es den unsichtbaren Teil Venedigs zeigt und eine Tür für Interpretationen offenlässt – wie guter Wein wird es in den kommenden Jahren noch wichtiger werden.

Ihr Projekt ist also eine Hommage an eine Welt, die verschwinden wird?
Es tut mir so leid, dass es vor mir niemand getan hat. Es wäre ein besonderer Schatz, wenn jemand das Leben in den venezianischen Häusern der 1930er-, 1960er- oder 1990er-Jahre Jahren dokumentiert hätte. Aber das ist nicht passiert. Nun, jeder kann in diesem Buch etwas anderes sehen. Was ich darin sehe, ist der horror vacui, die Angst vor der Leere, die oft jene befällt, die den Tod oder das Verschwinden fürchten.

Der Belgier Marc De Tollenaere, 1969 in Tripolis, Libyen, geboren, fotografiert seit 2003, sein erster Mentor war der italienische Fotograf Gianni Berengo Gardin. In den folgenden Jahren nahm er an Workshops und Seminaren von Alex Majoli, Anders Petersen, Ernesto Bazan, Bruno Stevens oder Paolo Pellegrin teil. Seit 2006 arbeitet De Tollenaere mit dem Verlag Biblos zusammen und hat mehrere Bücher in der Reihe Viaggio nelle Venezie (Reise nach Venetien) sowie zwei Monografien, Venezia ai confini della luce (Venedig am Rande des Lichts, 2007) und Gondole (Gondeln, 2009), veröffentlicht. Nach zahlreichen Reisen und Reportagen veröffentlichte er 2009 das Buch Calcutta. Gemeinsam mit anderen gründete er 2013 die Fotografische Gesellschaft Marco Polo in Venedig. Seit 2014 unterrichtet er an der Leica Akademie und wurde im selben Jahr Leica Botschafter. Sein Buch One, No One and Fifty Thousand erschien 2022 bei Biblos. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Marc De Tollenaere auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

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