Die Stadt liegt verlassen – höchstens zwei Menschen gehen gemeinsam auf die Straße. Nur die Tauben trauen sich, weiterhin in größeren Gruppen aufzutreten. Frédéric Stucin fotografierte während des Corona-Lockdowns die Straßen seiner Heimatstadt Paris. Die Aufnahmen zeigen ein anderes Gesicht der französischen Metropole – menschenleer und bedrohlich.

Welche Idee steht hinter Ihrer Serie Le Décor?
Nach einem Tag der Benommenheit, verursacht durch den Beginn des ersten Lockdowns, beschloss ich, diesen ganz besonderen Moment zu dokumentieren. Inspiriert hatte mich dabei die Arbeit von Charles Marville (1813–1879). Aber mir ging es nicht nur um Dokumentarfotografie, sondern ich wollte die Angst und Unruhe vermitteln, die der Lockdown in mir ausgelöst hat. Die Natur der Stadt erinnerte mich an einen Set, den die Filmcrew verlassen hatte. Mich hat aber nicht nur Marville beeinflusst, sondern auch die Lichtsetzung in den Filmen der Regisseure Aki Kaurismäki und Jean-Pierre Melville.

Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Motive gewählt?
Ich verbrachte viel Zeit damit, durch die Straßen von Paris zu fahren. Ich interessiere mich nicht wirklich für die touristischen oder bekannten Teile der Stadt. Ich wollte Szenerien finden, die die Banalität der Straßen und die Angst des Augenblicks zusammenfasst. Sobald mir etwas aufgefallen war, habe ich es mir mit meinem Mobiltelefon angesehen. Wenn das funktionierte, begann die Arbeit an der Beleuchtung und mit der Kamera.

Welche Kamera haben Sie verwendet?
Eine Leica S, obwohl ich in den letzten 20 Jahren nur mit einer Leica M gearbeitet hatte. Aber für dieses Projekt brauchte ich eine Kamera mit Gewicht – so etwas wie eine Kinokamera – um anders über meine Kompositionen nachdenken und meine Beleuchtung einrichten zu können. Ich arbeitete wie ein kleines Filmteam – abgesehen davon, dass ich allein war.

Ihre Fotos wirken tatsächlich sehr filmisch. Warum arbeiten Sie nicht als Filmregisseur?
Vielen Dank, dass Sie das fragen. Es stimmt, dass mich die Arbeit eines Filmregisseurs sehr anspricht. Letztes Jahr habe ich zusammen mit Olivier Jahan einen Kurzfilm gedreht: La Femme de 8h47. Ich hoffe, dass ich ihn bald auf Festivals zeigen kann.

Gibt es ein Bild, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Ich finde sie alle berührend, aber das des Manns auf der leeren Place de l’Hôtel-de-Ville
hat mich besonders bewegt. Er trat vor und bedeutete mir, dass er fotografiert werden wolle (er sprach kein Französisch). Er hat all meine Vorschläge akzeptiert. Er schlug sogar vor, nackt zu posieren, was er auch tat. Doch als eine Polizeisirene ertönte, verschwand er. Eine ganz seltsame Begegnung, sie passte genau in jene Zeit.

Wie war Ihr Erfahrung mit dem Lockdown als Fotograf?
Finanziell war es eine besonders schwierige Zeit. Alles war versiegt: Aufträge aller Art wurden abgesagt. Es war wirklich sehr stressig. Im Gegensatz dazu war es trotz der Einschränkungen eine entspannte Zeit mit der Familie, in der wir seltene und kostbare Momente erleben durften. Und ich konnte diese sehr persönliche Serie produzieren.

Frédéric Stucin, 1977 in Nizza geboren, lebt derzeit in Paris. Er hat Fotografie an der École nationale supérieure Louis-Lumière studiert. Seit 2002 arbeitet er als Pressefotograf und porträtiert zahlreiche Künstler, Autoren und Politiker. Seine Serie La Source erschien 2021 bei Maison CF. Er wird von der Galerie Clémentine de la Féronnière in Paris und der Agentur Pasco & Co vertreten. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Frédéric Stucin auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

In der LFI-Ausgabe 7/2022 finden Sie Frédéric Stucins Serie La Source, für die er entlang der Seine bis zu ihrer Quelle gereist ist.

Leica S

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