Poltawa ist mehr als nur eine Stadt an einem Fluss in der Zentralukraine, es ist ein ganz besonderer Ort: Dort treffen Vergangenheit und Gegenwart, Glaube und Realität aufeinander. In ihrer nachdrücklichen, kunstvollen Serie begab sich die Fotografin auf eine Spurensuche nach den Mythen der Stadt.

Sie sagen, Poltawa sei ein besonderer Ort, eine Art Mikrokosmos mit einem eigenen Universum und einer eigenen Mythologie. Woran liegt das?
Poltawa ist ein sehr interessanter Ort, an dem sich einige wichtige, manchmal bemerkenswerte historische Ereignisse zutrugen. Er ist von Mythologien durchdrungen, die die Einheimischen pflegen und untereinander weiterspinnen. Eines der berühmtesten historischen Ereignisse war die Schlacht von Poltawa, die sich Russen und Schweden 1709 lieferten – ein Wendepunkt im Schicksal Osteuropas. Viele berühmte Schriftsteller und Dichter hatten eine Verbindung zu Poltawa und schrieben darüber. Dieser Ort ist voller Geheimnisse, fast so, als hätte er ein eigenes Bewusstsein. Er spricht zu ihnen und zieht ungewöhnliche Menschen in sein „Netz“.

Ihre Fotografien wirken wie ein Gegenprodukt zur Moderne, sie sind mystische, düstere, aber zugleich sehr bunte Zeugnisse der Tradition in der Gegenwart.
Ich denke, dass die Vergangenheit in Poltawa eine sehr große Rolle spielt, aufgrund bestimmter historischer Ereignisse und wichtiger Persönlichkeiten, die dort gelebt und ihre Spuren hinterlassen haben. Einer dieser Charaktere ist etwa Iwan Mjassojedow, der ein berühmter Künstler und im Allgemeinen eine sehr exzentrische und ungewöhnliche Figur des 20. Jahrhunderts war. Der sogenannte „Garten der Götter“ (einer der Orte, die in Poltavaland porträtiert werden) ist Teil des ehemaligen Herrenhauses von Mjassojedows Vater. Dort organisierte er einen Geheimbund von Künstlern und Philosophen, der sich dort regelmäßig traf. Ein großer Teil von Poltawa besteht aus alten Häusern und Höfen, die sich jahrhundertelang nicht sonderlich verändert haben. Die alten Lebensweisen sind dort noch sehr präsent. Die Einheimischen kümmern sich auch sehr um das Kulturerbe der Ukraine im Allgemeinen und von Poltawa im Besonderen – deshalb sind die historischen Gebäude sehr wichtig. Eines davon ist das Kadettengebäude, in dem ich noch Gelegenheit hatte zu fotografieren, bevor man es wegen Baumaßnahmen nicht mehr betreten konnte.

Welche Rolle spielt die Malerei in Ihrer Arbeit?
Ich habe einen multidisziplinären Hintergrund und tatsächlich gehört die Malerei zu den Medien, die ich in meiner frühen künstlerischen Praxis am meisten erforscht habe. So ist es möglich, dass die Malerei unterbewusst immer noch meine fotografische Arbeit hinsichtlich Farbe, Komposition und Licht beeinflusst. Für mich geht es bei der Fotografie nicht nur darum, einen Moment festzuhalten, sondern auch darum, ein Bild zu schaffen, das eine Bedeutung und eine gewisse psychologische und visuelle Wirkung hat – genau wie ein gutes Gemälde. Wenn ich also fotografiere, schaue ich mir jedes Detail genau an und achte darauf, dass nichts ohne Grund da ist oder die Erzählung oder die visuelle Harmonie stört.

Wie verläuft Ihr fotografischer Prozess vom Shooting bis zur Nachbearbeitung?
Die meisten meiner Projekte entstehen mit minimalem Equipment: nur meine Kamera, mein Stativ und mein Lichtreflektor, keine Blitze oder andere externe Lichter. Ich wollte den wahren Geist des Ortes einfangen und deshalb habe ich nur mit dem vorhandenen Licht gearbeitet. Das heißt, dass ich oft eine sehr lange Verschlusszeit verwenden musste, aber damit kommt die Leica Q2 sehr gut zurecht. Ich konnte die Kamera sogar bei einer Achtelsekunde in der Hand halten und die Bilder waren trotzdem scharf. Normalerweise versuche ich aber bei so schlechten Lichtverhältnissen mein Stativ zu benutzen. Und ich gehe nie höher als 800 ISO, da ich es nicht mag, wenn die Bilder zu körnig sind. In der Postproduktion mache ich nicht so viel. Ich bearbeite die Rohdateien und passe den Kontrast und manchmal, wenn nötig, auch die Farbe leicht an. Ich verwende keine Spezialeffekte oder Filter. Ich passe die grundlegenden Parameter nur bis zu dem Punkt an, an dem es sich richtig anfühlt. Aber natürlich habe ich eine gewisse Vorliebe, was die Balance von kühlen und warmen Tönen angeht, die ich entsprechend justiere. Aber ich benutze nie irgendwelche Voreinstellungen: Jedes Foto bearbeite ich separat.

Der Regisseur Andrei Tarkowski sagte einmal, er wolle mit seinen Filmen Stimmungen erzeugen und sprach von einer „Logik des Poetischen“. Was macht für Sie die Poesie, die Erzählung eines Bildes aus?
Tarkowski ist sicherlich einer meiner angesehensten und am meisten geschätzten Künstler und Filmemacher. Eines der wichtigsten Elemente in einem Bild ist für mich, wenn es etwas einfängt, das unter der Oberfläche des Sichtbaren liegt. Etwas, das mich dazu bringt, mich zu wundern und mir die Welt vorzustellen, die die gezeigte Person oder den Ort umgibt. Etwas, das mich Träumen lässt, wenn ich mir das Bild ansehe. Ich mag auch das Gefühl von Zeitlosigkeit und Stille, das Betrachtende dazu bringt, in sie einzutauchen und für einen Moment darin zu verweilen. Ich wähle meine Fotografien unter dem Gesichtspunkt aus, dass ein Bild mich anregt und irgendwie geheimnisvoll wirkt: Es soll nicht alles auf einmal offenbaren, es soll Raum für die Fantasie lassen. Und das ist für mich die Poesie der Erzählung. Meine Lieblingsmomente sind es, wenn meine Arbeiten Betrachtende anregen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, oder sie eine Verbindung zu ihren persönlichen Erinnerungen und Assoziationen finden. Wenn das passiert, habe ich das Gefühl, dass die Bilder erfolgreich sind, da sie etwas Universelles berührt haben.

Viktoria Sorochinski, eine Künstlerin mit ukrainischen Wurzeln, hat in der UdSSR, in Israel, Kanada und den USA gelebt. Derzeit wohnt sie in Berlin. Zahlreiche internationale Ausstellungen und Publikationen; Sorochinski ist Gewinnerin und Finalistin vieler Wettbewerbe, darunter der Leica Oskar Barnack Award. Die Künstlerin ist auch als Kuratorin tätig, sie hält Vorträge, leitet Workshops für verschiedene Institutionen und coacht individuell. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Viktoria Sorochinski auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal.

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