Die Serie, die 1975 im drittgrößten Bundesstaat der USA entstand, ist heute mehr als nur ein historisches Dokument. Mit seinen Bildern, die das Leben der kalifornischen Arbeiterklasse und der Ärmsten der Bevölkerung einfangen, ist dem Fotografen ein außergewöhnliches und zeitloses Porträt gelungen.

Sie haben gerade Ihr Buch The Other California 1975 im Selbstverlag herausgebracht. Worum geht es darin?
Dieses Buch enthält Fotos von Menschen aus ganz Kalifornien, die ich vor fast fünfzig Jahren aufgenommen habe. Damals reiste ich fast vier Monate lang Tausende von Kilometer durch diesen Bundesstaat – bis in seine letzten Winkel. Die Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind, stammen größtenteils aus der Arbeiterklasse. Sie alle gaben mir einen Einblick in ihr Leben und hießen einen zwanzigjährigen Mann willkommen, der einen Moment in ihrer Existenz porträtierte. In den letzten fünf Jahrzehnten habe ich mit der schmerzhaften Erkenntnis gelebt, dass die meisten dieser Bilder nie an die Öffentlichkeit gelangten. So veröffentlichte ich dieses Buch, um die Menschen auf den Fotos zu ehren und jedem die Möglichkeit zu geben, sich mit ihnen und diesem Moment in der Zeit und der Geschichte auseinanderzusetzen.

Wie wurde die Serie entwickelt?
Vor 47 Jahren, als ich neunzehn war und mein zweites Studienjahr an der University of Michigan abschloss, erhielt ich einen Brief von Deanna Marquart, die für das California Office of Economic Opportunity (OEO) arbeitete. Sie fragte mich, ob ich bereit wäre, im Auftrag einen viermonatigen Roadtrip durch Kalifornien zu unternehmen und das Leben der kalifornischen Arbeiterklasse zu dokumentieren, insbesondere das der ärmsten Menschen im drittgrößten Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Der damalige Direktor und die Mitarbeiter des OEO glaubten daran, dass durch die Kraft der Fotos die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wandels gezeigt und dieser vorangetrieben werden könne. Sie glaubten, dass aussagekräftige, ehrliche Fotos den Regierungsangestellten, die allzu oft von Papierkram und Statistiken abgelenkt sind, inspirieren und motivieren könnten. Zudem sollten die Fotos auch der breiten Öffentlichkeit die Notwendigkeit eines effektiven Sozialhilfeprogramms vor Augen führen.

Welchem Impuls sind Sie damals gefolgt? Hatten Sie fotografische Vorbilder?
Seit ich im Alter von sechzehn Jahren mit dem Fotografieren begann, wurde ich nicht nur von Menschen wie dem großen französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson inspiriert, sondern auch von vielen anderen Fotografen. Unter ihnen waren auch die, die für die Farm Security Administration (FSA) arbeiteten. Das war eines der Programme von Präsident Roosevelts New Deal, das während der Weltwirtschaftskrise entwickelt wurde. Die FSA-Fotografen dokumentierten das Leben in Amerika mit der Absicht, nicht nur eine Zeit in der Geschichte festzuhalten. Sie sahen die Fotografie als ein Mittel, um Veränderungen herbeizuführen – und um die Aufmerksamkeit auf Menschen zu lenken, deren Stimmen oft nicht laut genug gehört wurden, wenn überhaupt.

Wie sah Ihre Arbeit vor Ort aus? Woran erinnern Sie sich besonders?
Ich kam Mitte Mai 1975 in Kalifornien an und mein Standort war Sacramento, wo ich Zugang zu einer staatlichen Dunkelkammer bekam. Die meiste Zeit der vier Monate verbrachte ich jedoch damit, in einem kleinen, weißen Volkswagen durch den Staat zu fahren. Den ganzen Sommer über begleitete mich meine College-Liebe Karen Gulliver, die bereits als Schriftstellerin tätig war. Ich werde mich immer an ihre Begleitung auf diesem ausgedehnten Roadtrip erinnern – und daran, wieviel sie mir bedeutete. Das Budget, das ich zur Verfügung gestellt bekam, reichte gerade aus, um die Kosten für Benzin, Mahlzeiten in Restaurants und günstige Hotels in Kalifornien zu decken. Während ich diesen erstaunlichen Staat durchquerte, der mit seiner bemerkenswerten Vielfalt an Bevölkerung, Geografie und Lebensweisen eher einem Land als einem einzelnen US-Staat ähnelt, wurde die gesamte Erfahrung zu einem wichtigen Wendepunkt in meinem Leben. Da ich im Mittleren Westen, in Indiana und Michigan, aufgewachsen bin, war mir das ländliche Amerika nicht fremd. Aber als junger Mann kannte ich von Kalifornien nur die Stereotypen – seine wunderschöne Küste, die Surfer und die Bilder von Los Angeles, Hollywood und San Francisco – und erst während dieser Reise wurde mir bewusst, dass Kalifornien der größte landwirtschaftlich geprägte Staat der USA ist.

Wohin genau sind Sie gereist?
Auf meinen Reisen verbrachte ich viel Zeit im San Joaquin Valley, in Orten wie South Dos Palos, Fresno, Bakersfield, Modesto und in den landwirtschaftlichen Gebieten dazwischen. Ich habe mich außerdem lange in Oakland, Hunters Point, Bay View und dem Tenderloin von San Francisco, Watts in Los Angeles, San Diego und auf den Feldern in der Nähe des Death Valley aufgehalten. Unter anderem habe ich viele Menschen fotografiert, die unterhalb des Mindestlohns arbeiteten, um Amerika mit Lebensmitteln zu versorgen.

Was geschah mit den Bildern nach Ihrer Reise?
In den letzten 47 Jahren haben diese Fotos überwiegend vor sich hin geschlummert und nur sehr wenige Menschen haben sie gesehen. Nach Beginn meines Auftrages kam es zu bedeutenden Veränderungen im California Office of Economic Opportunity. Ed Villamore, der diesen Auftrag leitete, trat mitten während meines Roadtrips aus dem OEO zurück. Bevor ich aus Kalifornien nach Michigan zurückkehrte, hinterließ ich dort einen umfangreichen Satz Abzüge. Doch nach all den Jahren weiß ich nicht mehr genau, ob diese Fotografien jemals im State Capitol in Sacramento ausgestellt wurden. Ich habe also mehr als vierzig Jahre lang keine Gewissheit darüber gehabt, wie meine Fotos tatsächlich jemals von der OEO verwendet wurden. Wie dem auch sei, ich bin sicher, dass diese Fotos ein Dokument eines wichtigen Aspekts der kalifornischen und amerikanischen Geschichte sind. Ich weiß, dass sie einen Eindruck von der Struktur und der Atmosphäre des Lebens der Arbeiterklasse Mitte der 1970er Jahre vermitteln. Dieses Buch ist eine Hommage sowohl an diese Zeit als auch an das Leben der vielen Menschen, denen ich begegnet bin. Die Fotos sprechen für sich und repräsentieren meinen Glauben und meine Überzeugung daran, dass sie gesehen werden müssen.

Peter Turnley ist bekannt für seine Fotografien, die die Lebensrealitäten unterschiedlicher Menschen zeigen. Er wurde in den USA geboren, hat aber über die Hälfte seines Lebens in Paris verbracht. Er arbeitete in über neunzig Ländern und war Zeuge der meisten großen Ereignisse von internationaler geopolitischer und historischer Bedeutung der letzten vierzig Jahre. Turnley hat viele der einflussreichsten Menschen der modernen Welt porträtiert und über sie berichtet: Obama, Castro, Gorbatschow, Lady Diana und Papst Johannes Paul II. Seine Fotografien wurden weltweit ausgestellt. Er hat zahlreiche Preise gewonnen und war im September 2020 für den Hauptpreis des wichtigsten internationalen Fotojournalismus-Festivals Visa Pour l’Image, in Perpignan, Frankreich, nominiert. Turnley lebt sowohl in New York als auch in Paris und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Er fotografiert seit 50 Jahren mit Leicas und hat eine Leica M2, M3, M4 (das 50. Jubiläumsmodell, das 1975 – im Jahr des Projekts – herauskam), eine M6, M7, M8, M9, eine Leica M240 Digitalkamera und zuletzt eine Leica M10 verwendet. Er hat immer sowohl ein Summilux 50 f/1.4 Objektiv als auch ein Summilux 35 f/1.4 Objektiv benutzt. Erfahren Sie mehr über seine Fotografie und das Buch The Other California 1975 auf seiner Webseite und seinem Instagram-Kanal.

Leica M

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