Nachdem er einen IPCC-Bericht (Intergovernmental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen – Anm. d. Red.) gelesen hatte, der besagte, dass die Camargue bei einer Erwärmung von 2,5 Grad Celsius im Mittelmeer versinkt, beschloss der französische Fotograf die Landschaft und deren Bewohner zu porträtieren. Das Projekt ist für ihn nicht nur ein fotografisches, sondern auch ein literarisches. Seinen dokumentarischen Bildern stellt er balladenähnliche Texte zu Seite, in denen er seinen gedanklichen Assoziationen Raum gibt. Hier spricht er über seinen Standpunkt, die Ergänzung seiner Fotografie durch das Schreiben, die gängigen Klischees über die Camargue und die Menschen, die er traf.

Die Camargue ist bekannt für ihre Camargue-Pferde, Stiere und Flamingos – fast schon ein Klischee – und für den starken Tourismus.
Ja, in der Tat. Hier gibt es keine rosa Flamingos, keine Wildpferde, die im Morgengrauen durch wilde Sümpfe rennen, keinen Sonnenaufgang über einem Entenschwarm. Die Sonne verbrennt die Haut, Salz und Rost zerfressen die Bretterverschläge, wurmstichige Bretter und abgenutztes Blech wohin man sieht, Plastikstühle liegen vor dem Haus – aber wen interessiert das schon? Ich hatte keinen Platz für romantische Sonnenuntergänge oder prächtige Visionen von farbenfroher Natur. Auch weil ich bei meinen Streifzügen natürlich ein paar Flamingos entdeckte. Aber nur wenige.

Was war Ihr fotografischer Schwerpunkt?
In meinen Bildern habe ich Platz gemacht für das, was ich sehe: müde Männer, Arbeiter im Ruhestand, staubige Cowboys und fischlose Fischer. Kranke Tiere, gelangweilte Pferde und verliebte Jäger. Ich habe mich nicht auf eine Vogelsafari begeben, sondern auf eine Wanderung durch ein geisterhaftes, postapokalyptisches, außerweltliches Tableau. Anhand von Porträts, Landschaftsfragmenten und Stillleben erzähle ich die Geschichte eines einzigartigen Volkes, das mit seinem Land und seiner Lebensweise verbunden ist, aber von der Dürre und dem Meer bedroht wird, das an den Stränden nagt; ich erzähle vom Salz, das ins Landesinnere kriecht, und vom Tourismus, der alles zerstört, was ihm im Weg steht.

Was hat Sie am meisten beeindruckt, als Sie das Alltagsleben in der Camargue dokumentierten?
Ich glaube, dieses Gefühl der unterschiedlichen Welten hat mir sehr gefallen. Hier leben so viele verschiedene Gemeinschaften: Sinti und Roma, Salzarbeiter, Fischer, Hafenarbeiter, Züchter und Bauern. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich untereinander nicht kannten. Dass jeder in seiner eigenen Zeit und seinem eigenen Raum lebt. Und ich segelte von einer Welt zur anderen. Jeder sieht die Camargue als etwas ganz anderes. Für die einen ist sie ein uraltes Land, das bewässert und erschlossen werden muss, damit man es bewirtschaften kann. Für die anderen ist es ein Küstenstreifen wie aus dem Bilderbuch, perfekt für ein Restaurant mit einem rosa Flamingo auf der Fassade. Für andere ist es ein empfindliches Feuchtgebiet, das geschützt werden muss.

Der Camargue wird nachgesagt, sie sei ungezähmt. Was war Ihr Eindruck; stimmt das noch?
Das ist eine schwierige Frage. Die Frage, die sich damit stellt, ist: Was ist wild? Ist ein rosa Flamingo, der sich in einem vorgefertigten Nest niederlässt, wild? Ist ein Fasan, der für die Jagd aufgezogen und freigelassen wird, noch wild? Ich weiß es nicht. Ich glaube, der Mythos des Wilden Westens hat diese Geschichte ein wenig karikiert. Die Camargue ist gleichzeitig ein künstliches Land, ein künstliches Gleichgewicht zwischen Salz- und Süßwasser und eine besondere Art der Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Natürlich ist die Camargue relativ unbesiedelt, und ein großer Teil des Gebiets ist weder bebaut noch von Straßen durchzogen. Dennoch ist hier alles eingezäunt, abgegrenzt und kontrolliert. Und die Camargue grenzt an Gebiete, die das genaue Gegenteil von wild sind: der Industriehafen von Fos sur Mer im Osten und der Badeort La Grande Motte im Westen. Die Menschen hier sind der Natur zugetan, den Sümpfen, den Pferden, dem Meer, sogar den Mücken. Doch der Mythos von der Beherrschung der Natur durch den Menschen ist stark. Da bleibt nicht mehr viel Platz für die Wildnis.

Können Sie ein wenig über Ihre Protagonisten erzählen?
Die meisten der Menschen, die ich getroffen und porträtiert habe, sind Einheimisch. Sie sprechen über „ihr“ Gebiet und darüber, wie sie die Zukunft angesichts der Bedrohungen sehen, denen ihre Insel ausgesetzt ist. Sie erzählen die Geschichte eines Landes, das sich durch die Entwicklung des Tourismus und den Niedergang der Salzindustrie dramatisch verändert. Da ist Jean-Claude, ein Fischer im Ruhestand, der die Tage des Überflusses und der kiloweise gefangenen Aale vermisst. Da ist Marguerite, die mit ihrem Mann hierher gezogen ist, um in den Salinen zu arbeiten, die jetzt geschlossen sind, und deren Haus nicht mehr viel wert ist. Da ist Victor, der seine Sommer in Beauduc verbracht hat, im Haus seines Großvaters am Meer, und gerade erfahren hat, dass es dem Erdboden gleichgemacht werden soll.

Sie sagten, Ihre Serie For Whom the Sirens Will Sing sei sowohl ein „fotografisches als auch ein literarisches Projekt“. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Für mich ist dieses Projekt in der Tat eine fotografische und literarische Arbeit. So wurde es konzipiert und so wird es auch veröffentlicht werden. Die Literatur bietet ein weiteres Feld der Freiheit und des Schaffens, denn man kann sich von der Realität befreien, man kann von Grund auf schaffen. Ich habe geschrieben, bevor ich fotografiert habe. Angefangen habe ich als Journalist bei einer kleinen Lokalzeitung. Ich hatte eigentlich nie daran gedacht, Fotos zu machen. Eines Tages bat man mich, Fotos zu machen, um meine Artikel zu illustrieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einen Roman veröffentlicht (Puisque chante la nuit, 2013), und ich liebte die Komplementarität dieser beiden Ausdrucksformen.

Wie ergänzen sich Fotografie und Literatur?
Literatur ist eine einsame Angelegenheit — auch in der Art und Weise, wie man einen Text empfängt und weitergibt. Wenn wir ein Buch kaufen, wissen wir nicht, ob es uns gefallen wird. Es ist eine Kunst, die Zeit braucht. Die Fotografie bot mir eine geerdete Beziehung zu den Dingen und auch die Möglichkeit, ein Bild sofort oder fast sofort zu teilen. Deshalb wollte ich diese beiden Ausdrucksformen in meinem Projekt zusammenbringen, um zwei Lesarten anzubieten… zwei parallele Welten, die sich unterscheiden, aber ergänzen.

Théo Giacometti wurde 1989 in den südfranzösischen Alpen geboren. Nachdem er zunächst als Koch gearbeitet hatte, wandte sich Giacometti dem Journalismus und der Fotografie zu. Er zog 2018 nach Marseille und begann für die nationale und internationale Presse zu arbeiten, darunter Le Monde, Libération und The Guardian. Seinen ersten Roman Puisque chante la nuit veröffentlichte er im Jahr 2013. Er ist Mitglied der Fotoagentur und des Studios Hans Lucas. Im Jahr 2022 erhielt Giacometti das Stipendium Mondes Nouveaux des französischen Kulturministeriums. Mehr über seine Fotografie finden Sie auf seiner Webseite und seinem Instagram-Kanal.

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