Detailreich und faszinierend: Mit neuen bislang unveröffentlichten Dokumenten und Bildern breitet ein prächtiger Bildband das Leben des deutschen Luftpioniers Wulf-Diether Graf zu Castell-Rüdenhausen (1905–1980) aus. Er war ab 1930 für die Deutsche Lufthansa tätig und von 1933 bis 1936 beauftragt, mit der Lufthansa-Tochtergesellschaft Eurasia in China ein Flugverkehrsnetz aufzubauen. Später war er Geschäftsführer des Münchner Flughafens in Riem. Wir sprachen mit dem Autor des Bildbands, Andreas Tank, über das spannende Projekt.
Wann haben Sie zum ersten Mal den Namen Wulf-Diether Graf zu Castell-Rüdenhausen gehört?
Das kann ich ganz genau datieren: Am 5. September 2020, als ich in der innerchinesischen Provinz Ningxia das UNESCO-Weltkulturerbe, die Gräber der Westlichen Xia-Dynastie, besuchte und dort auf einer Infotafel eine Schwarzweißaufnahme aus den 1930er-Jahren erblickte – und den Namen Wulf-Diether Graf zu Castell las.
Wie ging es dann weiter?
Ich wollte mehr darüber erfahren, warum die Lufthansa seinerzeit südlich der Wüste Gobi, immerhin 1600 Flugkilometer von Shanghai entfernt, aktiv war. Zuerst kontaktierte ich Freunde in der China-Geschäftsführung der Lufthansa. Im Anschluss recherchierte ich im Internet und nahm Kontakt zu Leica auf. Dort antwortete mir der ehemalige Leiter der Galerie in Nürnberg, Wolfram Reuter, der wiederum den Kontakt zu Gräfin zu Castell herstellte, der Tochter des Ausnahmepiloten. Sie öffnete sämtliche Türen zu den Münchner Museen, in denen der Nachlass liegt, und auch zu den Eigentümern von Leica, Dr. Andreas Kaufmann und Karin Rehn-Kaufmann. Ich begann eine globale Recherche, und wie ein großes Puzzle fügte sich das sagenhafte Lebenswerk zusammen. Dank großzügiger Sponsoren und des Interesses eines renommierten Verlages konnte der Bildband umgesetzt werden.
Schon Graf zu Castell hatte den Wunsch einer Neuauflage seines Chinaflugs. Vermutlich gehen Sie weit über das frühere Projekt hinaus?
Ja, Castells Kassenschlager Chinaflug von 1938 ist nur ein Bruchstück des neuen Bildbands. Das ursprüngliche Buch teilte sich in Erlebnisberichte aus China und ein Kapitel mit Fotografien auf. Zum einen sind diese Abenteuergeschichten jetzt wieder in ihrem Urtext zu lesen und erstmals auch in chronologischer Reihenfolge. Zum anderen sind sie in ihren historischen Kontext eingebettet. Pionier der Lüfte beinhaltet auch die jetzt erstmals veröffentlichten Tagebucheinträge von den legendären Suchflügen nach der Ju 52 D-ANOY über dem Pamir im Jahr 1937 und bislang nie gezeigte Fotografien, die erstmals direkt an den zugehörigen Stellen im Text gezeigt werden. Bisher hat es nie eine Vita gegeben, die das gesamte Lebenswerk enthielt.
Auf welchen Quellen konnten Sie für Ihre Recherchen zurückgreifen?
Hier sind unter anderem in München das Deutsche Museum sowie das Museum Fünf Kontinente zu nennen. Der Großteil der Fotografien war wiederum zuvor vom Bochumer Luftbildarchäologen Dr. Baoquan Song und auch von Leica digitalisiert worden. Ein neuer Schatz stellte das Privatarchiv der Gräfin zu Castell dar, das sie für meine Recherchen öffnete – und so gelang es beispielsweise, die genannten Tagebücher erstmals zu komplettieren – denn ein Teil lag im Museum, ein Teil bei Gräfin zu Castell. Es gibt weit über 1000 Aufnahmen in einzigartiger Qualität, vornehmlich aus Castells Zeit in China. Faszinierend war auch, dass sich im Nachlass originale Farbdias aus den 1930ern befanden.
Wie sah die Kameratechnik von Graf zu Castell aus?
Castell war ein passionierter Leica Fotograf. Über die genaue Anzahl seiner Kameras wissen wir nichts, aber aus seiner Zeit in Südamerika ist bekannt, dass er eine große Auswahl an „Leicalinsen“ und umfangreiches „Leicazubehör“ besaß. Er schätzte nicht nur das kompakte Format, das außergewöhnlich stabile Gehäuse und die einwandfreie Mechanik, die 40 Grad Hitze oder Kälte trotzte. Für ihn als Piloten hatte die Leica obendrein noch den besonderen Vorteil, dass der Schlitzverschluss von rechts nach links lief. Flog er im Tiefflug über ein interessantes Objekt, genügte trotz der Eigengeschwindigkeit des Flugzeuges von über 200 km/h eine Belichtungszeit von 1/200 Sekunde. Da sich der Führersitz seiner Junkers auf der linken Seite befand, hatte Castell die Leica in der linken Hand, mit der rechten steuerte er sein Flugzeug.
Was hat Sie persönlich an der Vita des Flugpioniers beeindruckt?
Graf zu Castell hatte ebenso wie mich mit Mitte 20 der Ruf nach China ereilt. Diese Parallele – nur in einer ganz anderen Zeit – war für mich persönlich sehr spannend. Wie lebte er sich in der fremden Kultur ein, wie gelang es ihm, hier erfolgreich zu sein? Das große Freiheitsbedürfnis und die Leidenschaft des Pioniers beschwingen, seine Souveränität und sein Mut beeindrucken, aber ebenso seine humanistische Einstellung anderen Menschen gegenüber in einer Zeit, in der viele Expeditionsreisende sich sehr borniert und abschätzig über China äußerten. Der adelige Flugpionier mit seinen Abenteuern rund um die Welt, die gefeierte österreichische Schauspielerin Luise Ullrich als Gattin an seiner Seite – absolut filmreif!
Wie geht es mit dem Projekt weiter?
Das Interesse an Castell und seinem Lebenswerk hat alle Erwartungen übertroffen. Die erste Auflage war nach wenigen Wochen vergriffen. Nun ist bereits die dritte Auflage gedruckt. Sowohl Ausstellungen als auch eine Verfilmung sind im Gespräch. Und jüngst hat Junkers-Uhren Graf zu Castell mit einem limitierten Chronographen geehrt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Dr. Andreas Tank gilt als ausgewiesener Chinaexperte. Er lebt und arbeitet in Shanghai. Während seine Asienbegeisterung bis zu seinem zehnten Lebensjahr zurückreicht, rückte seit 2001 China in den Blick. Mit seinen Doktorarbeiten in den Wirtschaftswissenschaften und der Sinologie etablierte er sich als Pionier in der Untersuchung von Einfluss- und Erfolgsfaktoren im China-Marketing. Nach langjähriger Tätigkeit in geschäftsführenden Managementpositionen in Peking und Shanghai gründete er seine eigene Unternehmensberatung und unterstützt westliche Marken bei der Erschließung Chinas und Nordostasiens.
Der Bildband Wulf-Diether Graf zu Castell – Pionier der Lüfte ist bei Frederking & Thaler erschienen; 256 Seiten, ca. 220 Abb., 26,8 × 28,9 cm. [ https://verlagshaus24.de/frederking-thaler/ ]
2015 erschien das LFI-Sonderheft Chinaflug mit Aufnahmen von Wulf-Diether Graf zu Castell-Rüdenhausen und Hans Georg Esch. Die Publikation begleitete eine Ausstellungstour in Deutschland und China. [ https://lfi-online.de/de/stories/wulf-diether-graf-zu-castell-ruedenhausen-china-aus-der-luft-15407.html ]
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