Nicht nur künstlerisch ist er als Musiker und Fotograf ein Multitalent, sondern auch bei der Auswahl seiner fotografischen Genres beweist Till Brönner immer wieder überraschende Vielfalt. Das vor fünf Jahren in Duisburg gestartete Ausstellungsprojekt Melting Pott mit Aufnahmen aus dem deutschen Ruhrgebiet hat sich in den Folgejahren durch die Unterstützung der Brost-Stiftung und auf Initiative der Stiftung für Kunst und Kultur e. V. Bonn ständig weiterentwickelt und eine europäische Perspektive in den Mittelpunkt gestellt. In diesem Sommer ist das Projekt mit rund 80 Arbeiten in Budapest zu Gast. Vor allem Porträts, aber auch Landschaftsmotive, Sachaufnahmen und Stillleben sowie Reportagebilder verteilen sich auf Großformaten in sechs lichten Sälen des modernen Gebäudes. Wir sprachen am Eröffnungstag, dem 13. April 2024, mit dem Fotografen mitten in der Ausstellung über seine Motivation und Erfahrungen.

Ihr Ausstellungsprojekt hat sich stetig verändert. Wie sehen Sie die heutige Präsentation?
Ja, es hat sich verändert – und wie ich finde auf ganz natürliche Art und Weise. Ich bin ein großer Fan davon, wenn Kunst nicht statisch und unbeweglich, sondern in Bewegung bleibt. Vielleicht liegt es ein bisschen daran, dass ich Musiker bin und für mich die Erfahrung ganz natürlich ist, dass jeder Konzertabend trotz eines ähnlichen Programmablaufs anders ist. Jedes Musikstück klingt jeden Abend anders, obwohl es dieselbe Komposition ist.

Bei Ausstellungen bleiben allerdings die Bilder gleich, nur die Zusammenstellung variiert.
Das sind spannende Prozesse. Die Basis für die aktuelle Ausstellung war zunächst meine fast zweijährige Fotoreise durch das Ruhrgebiet. Irgendwann wurde mir klar, dass es in Wahrheit um viel mehr geht. Das Ruhrgebiet ist das größte Ballungsgebiet Europas, und viele Elemente dort speisen sich aus zutiefst europäischen Themen. Menschen, die ihre Länder vor langer Zeit verließen, um sich neu niederzulassen. Es beginnt eine Spurensuche, die unweigerlich das Thema Europa und seine Bedeutung aufbringt. Letztlich wurde mir klar, dass ich selbst ein glühender Europäer bin, der diesen Kontinent für maßlos unterschätzt hält.

Die Präsentation des europäischen Gedankens in Budapest ist daher vielleicht ein besonders guter Coup.
Ja. Ungarn übernimmt in diesen Tagen den turnusmäßigen Vorsitz im Rat der EU für sechs Monate. Wir sind mit der Ausstellung gewissermaßen im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Sie verstehen Ihre Ausstellung als politisches Statement?
Auch das. Und noch dazu in einem Land, das innerhalb Europas durchaus eine kontroverse Rolle spielt. Gerade in Deutschland wird Ungarn rasch auf Klischees reduziert. Mich interessieren diese Zusammenhänge sehr. Die politische Dimension von vermeintlich schönen Dingen ist mitunter beachtlich.

Die Ausstellung ist auch ein Überblick über Ihr Werk aus 15 Jahren, von 2009 bis 2024. Welche Motive sind zuletzt dazugekommen?
Ich glaube, die jüngsten Bilder sind Porträts des ungarischen Jazzgitarristen Ferenc Snétberger und der georgischen Violinistin Lisa Batiashvili.

Und das älteste Motiv ist aus dem Jahr 2009: Johan Leijonhufvud, also auch ein Musiker. Warum war Ihnen dieses Bild wichtig?
Das Foto ist für mich ein kleiner Initialpunkt meiner Leica Affinität. Wir sehen einen Look, von dem ich bis heute immer wieder weggeblasen werde. Ich werde nie vergessen, wie damals ein Kurator eine Auswahl aus meinen Motiven vornahm, und die Motive, die er mit gelben Post-It-Klebern versah, waren alle mit der Leica M aufgenommen.

Aber das war kein Leica Galerist?
Nein, überhaupt nicht, sondern das war einfach jemand, der Motive nach ihrem Spirit, nach ihrer Beschaffenheit, nach ihrem Look auswählte. Ich fand das faszinierend. Vor allem in dieser wahnsinnigen, schnellen Welt der Kameras.

Zurück zur Ausstellung: Was ist Ihnen persönlich an dieser Hängung aufgefallen?
Es gibt eigentlich kein erkenntnisreicheres Erlebnis für einen Fotografen als zum ersten Mal seine Aufnahmen an der Wand in einer bestimmten Größenordnung hängen zu sehen. Mir ist eine gewisse Heterogenität aufgefallen. Wir sehen hier sehr viele Künstler in Schwarzweiß, bei denen sich eine Verwandtschaft abzeichnet. Doch es sind noch viele weitere Aspekte und Blickwinkel erkennbar. Es hängen bei Weitem nicht nur Prominente in der Ausstellung, sondern auch Personen, die bisher keine Öffentlichkeit kannten. Ich bilde durchaus ein Konglomerat an Einflüssen ab.

Die Ausstellung zeigt aber nicht nur Porträts …
Ich habe über die letzten Jahre immer mehr auch eine abstraktere Seite an mir entdeckt. Kunst oder Emotion findet sich an enorm vielen Stellen.

Das führt manchmal zu recht überraschenden Motiven, wenn die Werbung einer Fastfoodkette an einem belasteten Ort auftaucht.
Die Aufnahme, die in der Nähe von Auschwitz entstanden ist, hätte ich beim Durchsehen meiner Arbeit fast übersehen. Irgendwann sah ich noch einmal genauer hin, was eigentlich drauf ist, und dachte: Wow, aus deutscher Sicht ist das schon absurd, aber aus lokaler, dortiger Sicht völlig nachvollziehbar.

Kattowitz by Auschwitz, 2024

Es ist eben nicht nur das Bild, sondern auch der Subtext, der eine Rolle spielt, was ja schon wieder musikalisch ist.
Das gefällt mir. Ich finde es höchst spannend, dass nicht automatisch für jeden Betrachter auch der gleiche Subtext entsteht, dass vielleicht unterschiedliche Empfindungen oder Parallelen entstehen können, manchmal sogar auch Verwunderung oder Unverständnis. Letztlich geht es um eine Emotion, die jedem selbst überlassen ist.

Aber der Europa-Kontext steht hier doch im Vordergrund.
Meine Europa-Message ist einfach und klar. Ich glaube, dass es einen Grund dafür gibt, warum sich eine wirklich so riesige Zahl von Künstlern aus der ganzen Welt über Jahre und Jahrhunderte in Europa niedergelassen hat. Zum Beispiel sagt Ai Weiwei als sehr politischer Künstler, Europa sei der derzeit passendste Ort für seine Arbeit. Das ist schon spannend, und deswegen ist es auch ein Plädoyer für eine gewachsene Kultur und unsere europäische Art zu leben. Und das jetzt oft zu hörende Fazit, dass Europa am Ende sei, teile ich nicht. Im Gegenteil, ich glaube, Europa ist gerade herausgefordert, sich neu zu formieren, zu definieren. Als Hort und Quelle von so vielen wunderbaren Künsten ist Europa weltweit noch immer unerreicht.

Und wie fühlen Sie sich in der Rolle des Botschafters, die Ihnen gern zugesprochen wird?
Als Musiker bin ich häufiger mit dem Begriff Botschafter konfrontiert gewesen. Vielleicht auch deshalb, weil Musik noch schneller auf die Emotion abzielt als jede andere Kunstform. In der Fotografie geht es oft um die Darstellung der Realität. An der Wand wird sie in den besten Momenten zur Emotion oder gar zur Kunst. Eine diplomatische, öffnende, verbindende Kraft jedoch, die damit auch politisch sein kann.

Die Ausstellung zeigt daher auch einige Politikerporträts von Viktor Orbán bis Olaf Scholz. Was lässt sich daraus ableiten?
Mich kann man nicht einem bestimmten Lager zuordnen. Mir macht das Spielen und Flirten mit Kontrasten sehr großen Spaß. So war es beispielsweise auch beim Shooting mit Olaf Scholz. Das hier gezeigte Motiv mit Trompete ist das ungewöhnlichste der Serie. Es zeigt einen Menschen mit großer Verantwortung in einem fast kindlich spielerischen Moment. Beides zusammen entfaltet Kraft.

Und hat er sich die Trompete selbst geschnappt?
Das behalte ich für mich [lacht].

Till Brönner wurde am 6. Mai 1971 in Viersen geboren und wuchs in einer Musikerfamilie zwischen Italien und dem Rheinland auf. Mit neun Jahren erhielt er seine erste Trompete; bereits mit 20 Jahren war er Mitglied der RIAS-Big-Band. Er zählt zu den erfolgreichsten Jazzmusikern unserer Zeit. 2009 entstanden die ersten Porträts von Kollegen, wenig später folgten Porträts außerhalb seines eigenen Umfelds – Schauspieler, Sportler, Schriftsteller, Aktivisten. Lange Zeit lebte und arbeitete Brönner zwischen Berlin und Los Angeles; er gilt als Kosmopolit. Mehr Informationen über seine Arbeiten finden Sie auf seiner Webseite.

Die Ausstellung Identity – Landscape Europe ist noch bis zum 25. August im Ludwig Múzeum – Museum for Contemporary Art in Budapest zu sehen. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt der Brost-Stiftung und der Stiftung für Kunst und Kultur e. V. Bonn und wurde von Prof. Walter Smerling kuratiert.

Zur Ausstellung Melting Pott erschien vor fünf Jahren ein Beitrag im Leica Camera blog; ein Portfolio mit Bildern aus der Serie Melting Pott wurde in LFI 5.2019 veröffentlicht.