Nach seinem Langzeitprojekt Europea, in dem verschiedene Orte zu einer dichten Bildserie zusammenkamen, steht in der neuen Serie des in Stockholm lebenden Fotografen allein die rumänische Hauptstadt im Mittelpunkt. Wie immer in Schwarzweiß und mit seiner Leica M6 fotografiert. Ein Interview von Andrei Becheru mit seinem Freund und Kollegen Joakim Kocjancic über dessen neues Bukarest-Projekt wird den geplanten Bildband begleiten. Hier ist ein Auszug aus dem Gespräch über die Stadt, ihre Menschen, Street Photography und das Besondere an der analogen Technik.
Sie sind im Oktober 2019 zum ersten Mal in Bukarest angekommen. Welches Gefühl hat Sie dazu gebracht, ein neues Langzeitprojekt entstehen zu lassen?
Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Besuch in Bukarest. Ich nahm den Bus vom Flughafen und stieg am Romană-Platz aus. Es war ein sonniger, warmer Herbsttag. Vom Kreisverkehr aus ging ich in die Mendelejew-Straße, und es war, als würde ich eine Tür in eine neue Welt öffnen. Alte Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, Art-déco-Häuser, überall hängende Stromkabel, so viele Schichten der Zeit, des Lebens, der Menschen … Ich war sofort fasziniert und fühlte mich davon angezogen. Ich fühlte mich wohl mit dem Leben in der Stadt und mit ihren Menschen. Ich hatte das Gefühl, dass ich auf der gleichen Ebene kommunizieren konnte, auch wenn ich die Sprache nicht beherrschte.
Und es gab auch noch einen literarischen Zufall, der Sie mit Bukarest verbinden sollte …
Ja, als ich nach Stockholm zurückkehrte, entdeckte ich das Buch Solenoid von Mircea Cărtărescu und war völlig gefesselt. Ich hatte noch nie etwas so Surrealistisches gelesen, es war einfach zu viel. Ich war erstaunt, dass jemand so viel Vorstellungskraft haben konnte, und das überstieg alle meine Grenzen. Während ich das Buch las, entdeckte ich, dass viele der Orte, die auf den Seiten beschrieben werden, diejenigen waren, die ich an Bukarest gerade zu lieben begann. Dadurch wurde meine Verbindung zu dieser Stadt noch stärker. Während der Lektüre von Cărtărescus Buch konnte ich von Stockholm aus von Bukarest träumen und lernte die Stadt mithilfe von Satellitenbildern auf Google Maps ein wenig näher kennen.
Sie sind dann mehrfach nach Bukarest zurückgekehrt, um an dem neuen Projekt zu arbeiten.
Ja, damals hatte ich mein Langzeitprojekt Europea abgeschlossen und musste etwas völlig Neues beginnen. In Bukarest konnte ich einfach eintauchen und völlig versunken sein und fast wie Alice im Wunderland in eine neue, unbekannte Welt eintauchen. Für mich hat diese Stadt solch eine verträumte Atmosphäre. Der Lauf der Zeit hat mich schon immer angezogen und fasziniert, und ich mag besonders Orte, an denen die Schichten der Zeit nicht verdeckt werden. Es ist eine Art rohe Ehrlichkeit, die ich mag, die das Leben nicht perfektioniert, die seinen Fluss nicht stoppt. Mein Blick ist natürlich romantisch, und mir ist auch bewusst, dass ich in vielen Situationen das Leid bestimmter Orte und Menschen nicht sehe oder zeige. Ich suche nach einer anderen Art von Schönheit mit anderen ästhetischen Regeln. Mein Ziel ist es, die Schönheit oder die rätselhaften Qualitäten normaler Dinge oder Situationen zu zeigen, die wir normalerweise einfach für hässlich oder unwichtig halten.
Sie sagen, dass die Straßen einer Stadt wie ein offenes Theater sind. Würden Sie das, was Sie tun, als Street Photography bezeichnen?
Was ich mache, ist eine Art von Fotografie, die sich mit den ganz alltäglichen Dingen beschäftigt, die wir normalerweise übersehen. Sie ist eher poetisch, existenziell und subtil. Aber ja, die Straßen sind der Ort, an dem ich mich in die Fotografie verliebt habe. All diese Paralleluniversen, die zusammenkommen, vorbeiziehen, miteinander verschmelzen, die urbane Umgebung schnell durchqueren und die Spontaneität dieser Art von Fotografie, nicht arrangiert oder theatralisch inszeniert – einfach sein lassen und beobachten, fantasieren, träumen – das ist ein offenes Theater. Es ist die Energie, die Intensität des Lebens, die ich anziehend finde. In gewisser Weise ist das, was ich mache, Street Photography, aber gleichzeitig auch nicht. Ich bin nicht an dieser Art von künstlicher Street Photography interessiert, bei der es nur um Farbe und Komposition geht.
In Bukarest haben Sie beschlossen, auch Porträts von Teenagern zu machen. Warum?
Die Wahl des Themas erfolgte instinktiv und schnell. Ich fühlte mich mehr von der jüngeren Generation angezogen. Die Teenager stachen für mich im Vergleich zu den anderen Leuten wirklich heraus. Sie haben eine ganz bestimmte Art, sich zu kleiden, jeder mit seinem eigenen Stil, und ich sah sie als selbstbewusst, echt und nicht überheblich. Ich wollte so weit wie möglich von den Klischees des Ostens wegkommen. Ich glaube auch, dass die Umstände in Bukarest mit der jüngeren Generation, die ich getroffen habe und die nach der Ceaușescu-Ära mit dem Internet aufgewachsen ist, einzigartig sind. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen, und es fiel mir nicht schwer, mich in sie hineinzuversetzen wie in mich selbst, als ich als Teenager auf der Suche nach meiner eigenen Identität war.
Jedes Bild, das wir in Ihrer Arbeit sehen, ist ein Silbergelatineabzug, den Sie scannen, um ihn in Ihre Bücher einzufügen oder in verschiedenen Publikationen zu verwenden. Sie sagten, dass Sie von Anfang an ausschließlich mit analogem Film gearbeitet haben. Was fasziniert Sie daran, und warum ist der analoge Prozess so wichtig?
Die Dunkelkammer ist ein integraler Bestandteil meiner Praxis, fast so wichtig wie das Fotografieren selbst und unwiderruflich damit verbunden. Ich habe es in der Vergangenheit mit digitaler Technik versucht, aber ich war nie mit den Ergebnissen oder dem Prozess zufrieden. Vor dem Bildschirm ist es leicht, zu sehr zu kontrollieren, perfekt zu sein; es ist zu mental. Analoges Arbeiten ist organisch, man berührt, man riecht, man fühlt. Es geht auch um die Beziehung zu dem Objekt, das ich fotografiere. Es ist ehrlich, es ist unverfälscht. Es gibt keine Filter, und ich kann das Bild nicht allzu sehr verändern. Es ist, wie es ist, das ist die Magie daran. Man hat keine totale Kontrolle und akzeptiert das Gesetz des Lebens und seine Unvorhersehbarkeit. Das Gefühl, in einer Dunkelkammer zu arbeiten, ist irgendwie heilig. Ein besonderer Moment, in dem man in die Arbeit oder in sich selbst eintaucht, wie in einer introspektiven Meditation. Man macht eine Pause von der Außenwelt. Es ist, als würde man die Zeit wieder anhalten, zuerst in der Kamera und dann in der Dunkelkammer.
Schon seine Familiengeschichte ist international: Joakim Kocjancic wurde 1975 mit slowenischen Wurzeln und als Kind einer Schwedin und eines Italieners in Mailand geboren, danach hat er in vielen europäischen Ländern gelebt. Nach einem Studium der Malerei in Florenz und Carrara von 1998 bis 2002 folgte 2005 ein M. A. in Fotojournalismus in London. Seit 2006 ist Stockholm sein Lebensmittelpunkt. Nach Paradise Stockholm (2014, Journal) und Europea (2020, Max Ström) ist Bucharest sein drittes großes Langzeitprojekt. Erfahren Sie mehr über seine Fotografie auf seiner Webseite und seinem Instagram-Account.
Das Portfolio Bucharest finden Sie in der LFI-Ausgabe 4.2024.
In der LFI-Ausgabe 6.2021 wurde das Portfolio Europea präsentiert.
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