Alessandro Mallamaci ist der Ansicht, dass jedes Bild wie ein Gedicht sein sollte: Seine Fotografien sind wie geschriebene Verse, deren Interpretation er dem Betrachter selbst überlässt. Seine Serie erzählt von der Beziehung zwischen Mensch und Natur und ist gleichzeitig eine Liebeserklärung an seine Heimat Kalabrien.
Was erzählen uns Ihre Fotografien über die Region Kalabrien; was zeichnet diese Region besonders aus?
Ich denke, dass man aus meinen Fotos Themen wie illegale Gebäude, Bauspekulation und die ‚Ndrangheta herauslesen könnte. Ebenso könnte man einen Mangel an Umweltbewusstsein und eine unzureichende Pflege öffentlicher Bereiche erkennen. Doch gleichzeitig sieht man einen wunderschönen Ort. Umberto Zanotti Bianco schrieb: „Keine Schönheit eines Landes, das noch nicht erwacht ist, kein Reichtum neuer, kaum von der Zivilisation berührter Welten könnte den Charme dieses vernachlässigten und doch uralten Kalabriens übertreffen, mit seinen stummen Ruinen vergessener Katastrophen, erstickt von Efeu und Geißblatt, die, wo immer sie freigelegt werden, das marmorne Gesicht einer großen, aber verlorenen Zivilisation enthüllen.“ Ich bin jedes Mal bewegt, wenn ich das lese.
Was wollten Sie mit Ihren Bildern zeigen?
In diesem Fall habe ich einfach zu meinem persönlichen Vergnügen und aufgrund meiner Verbindung mit diesem besonderen Ort angefangen – ohne konkrete Idee. Nach ein paar Jahren fragte ich mich, was ich wirklich erzählen wollte und wie ich meine Landschaft am besten darstellen könnte. Schließlich beschloss ich, näher heranzugehen und vertikale Ausschnitte meiner Landschaft zu erstellen, um einen tieferen Einblick zu gewinnen. Wenn man Un luogo bello verstehen möchte, muss man die Fotos mit dem richtigen Maß an Langsamkeit betrachten. Gleichzeitig kann man sich aber frei fühlen: Ich habe experimentiert, damit jeder, der meine Fotos betrachtet, unterschiedliche Echos wahrnehmen kann. Jeder kann unterschiedliche Geschichten hören, je nach seinen eigenen Erfahrungen.
Ihre Motive vermitteln den Eindruck, als sei etwas im Werden oder Entstehen – in jedem Fall aber unvollendet.
Ich habe einfach das fotografiert, was ich jeden Tag vor Augen habe. Generell versuche ich, eine ethische und respektvolle Haltung einzunehmen. Es stimmt, dass man beim Betrachten unserer Landschaft das Gefühl bekommen kann, etwas Schwebendem oder – nur scheinbar – Vorläufigem gegenüberzustehen.
Die Fotografien sind auch ein wunderschöner Ausdruck für die Kraft der Natur und zugleich für den Umgang der Menschen mit ihr …
Ich bin sehr beeindruckt von der Kraft der Natur. Während eines Kunstaufenthalts in Island dachte ich oft, dass meine Fotos nicht so schön sind wie die Landschaft vor mir. In diesem Fall bestand das Ziel darin, eine persönliche Erzählung von einem bekannten und geliebten Ort zu schaffen. Das Risiko des Klischees war sehr hoch. Im Allgemeinen ist mein Interesse, die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu untersuchen.
Aber die Menschen selbst sind auf den Bildern nicht zu sehen?
Wenn man sich das Projekt ansieht, denke ich, dass man die Präsenz der Menschen erkennen kann. Man muss nicht mit Porträts arbeiten, um diese Präsenz zu spüren. Obwohl ich Porträts liebe, ging es in dieser Arbeit um meine persönliche Beziehung zu meiner Landschaft. Ich denke, dass in dieser Serie eine besondere Intimität steckt, die mit Porträts nur sehr schwer zu erreichen ist – wenn man nicht über einen langen Zeitraum mit derselben Person arbeitet. Ich denke dabei an die wunderbaren Bücher von Christopher Anderson, die seiner Familie gewidmet sind. In der Dokumentar- und Landschaftsfotografie werden häufig Porträts aufgenommen, aber sie wirken meiner Meinung nach distanziert, fast kalt. Vielleicht erreichen Bryan Schutmaat in Grays The Mountain Sends oder Alec Soth in I Know How Furiously Your Heart Is Beating die Art von Intimität, die ich meine. Doch in diesem Fall war ich nicht an einem solchen Ergebnis interessiert.
Inwieweit sind Komposition, Licht, Farbe und Schatten für Sie in Ihrem fotografischen Prozess wichtig? Worauf legen Sie ein besonderes Augenmerk?
Sie kennen sicherlich das Buch The Nature of Photographs von Stephen Shore. In diesem Buch analysiert Shore jeden einzelnen Aspekt, aus dem sich ein Foto zusammensetzt. Ich verwende diese Methode in einem meiner Workshops, in dem die Schüler aufgefordert werden, sich auf viele verschiedene Aspekte zu konzentrieren und diese zu trainieren. Zuerst müssen sie mit Geometrie arbeiten, in einer anderen Übung spielen sie mit Licht und anschließend mit Farben, mit Raum, mit Zeit usw. Nach einem Dutzend verschiedener Übungen entwickeln sie einen Fokus auf all diese verschiedenen Themen, können die Teile zusammenfügen und so ihr Verständnis und ihre fotografische Praxis verbessern.
Wie genau sieht Ihr fotografischer Ansatz aus?
Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich einen einzigen Ansatz habe. Ich ziehe es vor, meinen Ansatz je nach dem Projekt auszuwählen, an dem ich arbeite. Ich denke, dass die Beibehaltung desselben Ansatzes eine Möglichkeit wäre, um wiedererkennbar zu werden und sich selbst sowie seine Kunst besser zu vermarkten. Oft ist dies das Ergebnis eines Trends und daher nicht durch ein echtes Bedürfnis motiviert. So haben wir es oft mit schönen, leeren Fotos zu tun. Wunderbare Stilübungen ohne jegliche Ehrlichkeit. Ich möchte Ihnen mit meinem Manifest antworten: Ich liebe Fotografien, die Fragen stellen, anstatt Antworten zu geben.
Ist Ihr Projekt auch eine Art Liebeserklärung an Ihre Heimat?
Ich antworte Ihnen mit ein paar Worten, die Giovanna Calvenzi im Nachwort zu meinem Buch über mich geschrieben hat: „[…] Er versucht weder anzuprangern, noch strebt er nach einem objektiven Standpunkt. Er wählt seinen Rahmen nicht, um zu urteilen, sondern um Empathie zu suchen, vielleicht sogar in einer Übung der Pietas, die das anhaltende Unbehagen in eine Art Land-Art verwandelt. Er baut eine Bildabfolge aus Details und umfassenderen Visionen auf, die uns Seite für Seite durch ein Land führt, das wir nicht kennen und das nur ihm gehört […].“
Alessandro Mallamacis Interesse an bildender Kunst, Kommunikation und Fotografie begann im Jahr 1996. Bis 2008 war er als Botschafter und Pädagoge tätig und arbeitete mit angesehenen Marken wie EIZO, Leica und Fujifilm zusammen. In jüngerer Zeit hatte er das Privileg, am Columbia College in Chicago, USA, zu unterrichten. Derzeit lehrt er an der Academy of Fine Arts in Perugia. Die künstlerischen Projekte und von ihm gestalteten Bücher wurden ausgezeichnet und auf Ausstellungen, Kunstmessen sowie in Galerien in China, Frankreich, Island, Italien, Großbritannien und den USA ausgestellt; seine Fotografien wurden in verschiedenen Zeitschriften und Büchern veröffentlicht. Un Luogo Bello wird von Gente di Fotografia veröffentlicht und ist ab November 2024 erhältlich. Mehr über seine Fotografie erfahren Sie auf seiner Webseite und seinem Instagram-Kanal.
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