Unter dem zynischen Begriff der „Normalisierung“ ist die Phase nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Armeen des Warschauer Pakts in die Geschichte der Tschechoslowakei eingegangen. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges und der Abwahl des kommunistischen Regimes 1989 war die Zeit der Repression vorüber. In virtuosen Schwarzweißaufnahmen gibt Jaroslav Kučera berührende Einblicke in die kaum fassbaren Konflikte zwischen äußerer und innerer Realität. Vordergründig geht es um den Alltag der Menschen, Momente und alltägliche Lebenssituationen, doch mit seinem genauen Blick zeigt sich im Zusammenspiel der Motive auch die bleierne Schwere, die in den 1970er- und 1980er-Jahren auf seinem Heimatland lag. Wir sprachen mit dem Chronisten über seine eigene Zeitreise.

Ihr neuer Bildband dokumentiert auch Ihre eigene Geschichte als Fotograf?
Ich studierte bereits in Prag an der Fakultät für Bauingenieurwesen, und nachdem ich einen Studenten-Fotoclub gegründet hatte, begann ich, über einen anderen Beruf als den des Bauingenieurs nachzudenken. Die endgültige Entscheidung fiel erst ein Jahr später, als ich 1969 beim Fotografieren einer Antibesatzungsdemonstration verhaftet wurde und anschließend ins Gefängnis musste. Ich wollte mein Studium beenden und dann auswandern, wie meine Schwester. Letztendlich ist keine einzige Emigration mit meinen Freunden gelungen, und ich habe in einem Land fotografiert, in dem die Parole lautete: Mit der Sowjetunion für immer und niemals anders. Bis heute bin ich dem Schicksal dankbar, dass ich mit meinen Eltern in unserem Land geblieben bin und den November 1989 erlebt habe. Das Buch ist auch Ausdruck meiner Aufarbeitung des kommunistischen Regimes und der Erinnerung an meine Jugend.

Stand der Titel Die Ruhe vor dem Sturm von Anfang an fest?
Mir war von Anfang an klar, dass der Untertitel des Buches lauten würde: Wie wir unter der Normalisierung lebten, Fotos aus den 70er- und 80er-Jahren. Über den endgültigen Titel des Buches haben wir zusammen mit der Kunsthistorikerin Daniela Mrázková entschieden, als wir den Titel Stille vor dem Sturm gemeinsam überdachten – am Ende hat dann die Ruhe vor dem Sturm gewonnen.

War es schwierig, eine Bildauswahl zusammenzustellen?
Das war eine schöne Aufgabe. 80 Prozent der Fotos waren gesetzt, andere habe ich in den alten Negativen gesucht und dabei auch Dinge entdeckt, die ich längst vergessen hatte, und vor allem diese Fotos haben die Erinnerungen wiederbelebt.

Wie haben Sie dieses Eintauchen in die Vergangenheit erlebt?
Es war eine Art Therapie und Behandlung für mich, da ich mich zu der Zeit von einer ziemlich schweren Krankheit erholte. Ohne die Hilfe meiner Frau Markéta, meiner Tochter Mariana und meiner Freunde hätte ich das Buch nicht veröffentlichen können. Sie richteten ein Crowdfunding-Konto ein, und schließlich trugen Hunderte von Enthusiasten zur Veröffentlichung bei. Ich habe mich an den Computer gesetzt, Informationen zusammengetragen, Geschichten geschrieben, alles mit meinen engsten Freunden besprochen, Negative eingescannt und Bilder retuschiert. Und bevor das Buch veröffentlicht wurde, hatte ich eine gleichnamige Ausstellung in der Leica Galerie Prag.

Das fertige Buch wurde dann ein Erfolg.
Das Größte und Erfreulichste war wahrscheinlich, dass die erste Auflage des Buches innerhalb eines Monats ausverkauft war und wir einen Nachdruck machen mussten. Und auch das unglaubliche Interesse der Menschen an der Fotografie aus dieser Zeit überraschte mich, während ich ihnen nur das „normale Leben“ und nicht die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse zeigte. Am letzten Tag der Ausstellung kam es noch zu einem wunderbaren Treffen mit drei Besucherinnen, die sich auf den Bildern wiedererkannt hatten.

Wann haben Sie Ihre erste Leica erworben?
Bereits in den 1960er-Jahren gab es in der Melantrichova-Straße im Zentrum von Prag ein kleines Geschäft, das gebrauchte Kameras verkaufte. Es wurde von dem legendären Herrn Havlík geführt, den ich als Student besuchte und fragte, ob ich eine alte Leica, die er im Schaufenster hatte, für 1500 Kronen kaufen könne. Herr Havlík holte sie feierlich heraus und erzählte mir, dass ein Dr. Čumpelík mit ihr die ganze Welt bereist hatte. Ich hatte keine Ahnung, wer der Reisende war, aber ich fragte, ob er sie mir ausleihen könne, um ein paar Fotos auf der Straße zu machen. Ich ließ meinen Ausweis dort und ging zum Altstädter Ring, wo eine Hochzeit stattfand. Ich machte Fotos von der Braut und dem Bräutigam und brachte die Leica zum Geschäft zurück. Am Abend entwickelte ich den Film, machte von einem kleinen Ausschnitt ein 30 × 40 cm großes Foto, und das Ergebnis war fantastisch. Also kaufte ich die Leica mit einem Summar-2/50-mm-Objektiv und ein russisches Jupiter-2.8/35-mm-Weitwinkelobjektiv. Dank des LFI Magazins und der Recherche im Leica Archiv weiß ich heute, dass die Leica III aus dem Jahr 1935 stammt.

Welches Filmmaterial haben Sie bevorzugt verwendet?
In den 1970er-Jahren benutzten wir den Film ORWO 400 DIN aus der kommunistischen DDR, den wir als 3200 DIN belichteten. Später konnte ich Ilford-Filme mit 200, 400 und 3200 ASA und schließlich Kodak-Filme mit 400 und 3200 ASA kaufen.

Seit Kurzem haben Sie auch eine digitale Leica …
Ja, nach der Veröffentlichung im LFI Magazin, in der ich auch meinen Wunschtraum erwähnte, eine digitale Leica zu besitzen, war es ein echter Schock für mich, als ich erfuhr, dass der großartige britische Fotograf Adam Hinton mir eine Leica M-P 240 schenken wolle. Wir haben uns im Sommer im wunderschönen Hotel Augustiánu in der Prager Burg getroffen. Adams einziger bescheidener Wunsch war mein Buch, das ich ihm sehr gern mit Dank widmete.

Eine großartige Fügung. Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Ich möchte weitere Bücher machen, und das Wichtigste für mich ist, wieder Reisen in das tschechische Grenzgebiet zu unternehmen und die Menschen und das Leben zu fotografieren, 30 Jahre nach meinen ersten dortigen Besuchen.

Jaroslav Kučera wurde 1946 im tschechischen Dorf Ředhošť geboren. Ab 1967 Studium an der Fakultät für Bauingenieurwesen der Tschechischen Technischen Universität in Prag. 1973 Abschluss des Studiums als Bauingenieur, unmittelbar danach als „freier“ Fotograf tätig. Erst nach 1989 konnte er den Hauptteil seiner in den Jahren zuvor entstandenen Aufnahmen veröffentlichen. Er war Gründungsmitglied der Fotogruppe Signum und wurde 1996 Mitglied der Hamburger Agentur Bilderberg. Im Jahr 2006 gründete er den Jakura Verlag. Zahlreiche Auszeichnungen und internationale Anerkennung. Er lebt in Prag.

Mehr über seine Fotografie auf seiner Website.

Jaroslav Kučera: Klid před bouří. Jak jsme žili za normalizace. Fotografie ze 70. a 80. let | Calm before the storm. How we lived at normalization. Photos from the 70’s and 80’s, 334 Seiten, 280 Schwarzweißabb., Tschechisch/Englisch, 26 × 30 cm, Jakura

Ein umfangreiches Portfolio von Kučeras Arbeit ist im LFI Magazin 5/2023 erschienen.

Leica M

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