Peru ist ein Land mit einer enormen kulturellen und geografischen Vielfalt. Für den Fotografen Michael Robinson Chávez hat sich das südamerikanische Andenland als große Muse erwiesen: Bei jedem seiner zahlreichen Besuche hat es ihn überrascht, überwältigt und manchmal auch frustriert zurückgelassen. Über mehrere Jahrzehnte hinweg hat er ein beeindruckendes Porträt von Land und Leuten geschaffen, das er als eine Art visuelles Tagebuch versteht und das einen einzigartigen Einblick in die peruanische Volksseele bietet.

Sie waren über viele Jahre hinweg regelmäßig in Peru. Wie viele Bilder haben Sie in dieser Zeit ungefähr gemacht?
Ja, es waren wirklich sehr viele Reisen. Wie viele Bilder? Ich bin mir gar nicht sicher. In den Jahren, in denen ich auf Film fotografiert habe, waren es sicher weniger, aber zwischen 1993 und 2000 waren es bestimmt Hunderte von Rollen. Am intensivsten habe ich in den Jahren 1996 und 1997 gearbeitet, als ich jeweils monatelang dort war. Bei der digitalen Fotografie stieg die Anzahl der Bilder dann unweigerlich an, egal wie diszipliniert ich versuchte, dies zu verhindern.

Wie gestaltet sich der Selektionsprozess bei dieser Masse an Fotos?
Das war ein langer Prozess. Im Laufe der Jahre veränderte sich meine Fotografie, und die Art und Weise, wie ich Dinge wahrnehme und sehe. Das gilt auch für die Bearbeitung. Manchmal gehe ich meine Kontaktabzüge durch und werde von einem Bild angezogen, das ich vor 20 Jahren aufgenommen habe und das damals nicht mein Interesse geweckt hätte. Es hat mehrere Bearbeitungen gebraucht, um mein Gesamtwerk dorthin zu bringen, wo es jetzt ist. Zurzeit bearbeite ich die Bilder für ein Buch, und ich hoffe, dass ich dabei einige Perlen entdecke, die ich vorher übersehen habe.

Welche Fotografen oder Künstler haben Ihre Arbeit und Ihre Herangehensweise an die Fotografie beeinflusst?
Es sind zu viele, um sie hier alle zu nennen. Viele davon sind lateinamerikanische Größen: Manuel Álvarez Bravo, Graciela Iturbide, Sebastião Salgado und Martín Chambi, um nur einige zu nennen. Dann gibt es die wunderschön eingefangenen Momente von Henri Cartier-Bresson, die Eloquenz von Josef Koudelka und die großartige Mischung aus Journalismus, Dokumentation und Kunst von Eugene Richards. Gilles Peress und Constantine Manos haben maßgeblich dazu beigetragen, meine Vorstellung von Bildkomposition zu verändern. Viele meiner Zeitgenossen leisten phänomenale Arbeit: Rena Effendi, Moises Saman, Ron Haviv, Johis Alarcon, Hector Emanuel, Evgenia Arbugaeva … es sind einfach zu viele. Viel Inspiration bekomme ich durch Museumsbesuche, wenn ich mir Werke von Edgar Degas, Edward Hopper und Barkley Hendricks ansehe.

Wie gelingt es Ihnen, die Vielfalt Perus in Ihren Bildern einzufangen? Haben Sie einen bestimmten Ansatz?
Ich habe keine bestimmte Herangehensweise. Tatsächlich war es genau das, was ich wollte: frei sein. Es war ein Ort, an dem fotografieren konnte, unbelastet von Aufträgen, Terminen und Erwartungen. Das Land ist so kraftvoll und erstaunlich, dass man es am besten einfach auf sich wirken lässt. Das ist einer der Gründe, warum ich es dort so liebe.

Welche Rolle spielt die emotionale Verbindung zu einem Ort in Ihrer Fotografie?
Meine emotionale Verbindung zu Peru ist stärker als zu jedem anderen Land der Welt, sogar stärker als zu den Vereinigten Staaten, wo ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe. Peru war der Ort, an dem ich mit der lateinamerikanischen Seite meiner Familie in Kontakt kam. Auf meiner ersten Reise als Erwachsener betrat ich einen Raum mit 50 Menschen, von denen ich die meisten noch nie zuvor gesehen hatte – ich war mit allen verwandt. Es war herrlich. An diesem Abend gab es Essen, Bier und Freude im Überfluss. Es ist immer wieder schön, dorthin zurückzukehren. Also: Ja, für mich sind die Emotionen dort viel stärker als im Rest der Welt.

Können Sie ein Schlüsselerlebnis oder eine Geschichte erzählen, die einen bleibenden Eindruck auf Ihrem fotografischen Weg hinterlassen hat?
Wow, auch hier gibt es so einige Geschichten, von denen viele einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Da war zum einen meine erste Ankunft in Peru als Erwachsener, im Jahr 1988. Das Land war im Chaos versunken, in den Bergen tobte ein brutaler Bürgerkrieg, die Wirtschaft befand sich im freien Fall, und ich erinnere mich, dass ich mit Augen wie Suchscheinwerfern in Lima landete. Es war erstaunlich, das Chaos, der Lärm, die Gerüche und die Gesichter. Ich liebte es. Es rüttelte mich aus meiner Banalität in der Vorstadt von Los Angeles heraus. Ich war vom ersten Tag an süchtig.

Aus welchem Grund haben Sie sich für die analoge Fotografie entschieden?
Haha, ich hatte keine andere Wahl! Viele dieser Fotos wurden aufgenommen, bevor es die Digitaltechnik überhaupt gab. Für die meisten Bilder habe ich eine M6 und eine M4 mit Summilux-30- und Summilux-50-Objektiven verwendet. Und eine Tasche mit Tri-X-Film. In späteren Jahren bin ich auf die Q und Q2 umgestiegen.

Welche Vorteile sehen Sie in der Verwendung von Leica Kameras bei Ihren Reisen und Projekten, und welche Rolle haben die Leica M6 und M4 in Ihrem persönlichen fotografischen Entwicklungsprozess gespielt?
Leica Messsucherkameras haben für mich fotografisch alles verändert. Vor allen Dingen die Art, wie ich sah und komponierte. Und die Geduld. Ich hatte mir schon immer eine Leica gewünscht, und als ich einen richtigen Job beim Boston Globe bekam, konnte ich mir endlich eine leisten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit einer Spiegelreflexkamera fotografiert. Die Leica Ms eröffnete mir eine neue Welt: Zonenfokussierung. Ich konnte zudem sehen, was in meine Bilder hinein- und aus ihnen herauskam, es war eine ruhige, unauffällige Kamera, die weniger Aufmerksamkeit erregte … alles in allem eine komplette und willkommene Veränderung. Nach dieser Erfahrung war es schwer, zur Spiegelreflexkamera zurückzukehren.

Welchen Rat würden Sie jungen Fotografinnen und Fotografen geben, die von Ihrer Arbeit inspiriert sind?
Junge Fotografierende befinden sich in einem schwierigen Umfeld. Fotomanipulationen und Fehlinformationen gab es schon immer, aber mit der KI und der Postproduktionstechnologie betreten sie ein noch gefährlicheres Terrain. Ich würde sagen: Bleibt eurer Arbeit treu und sucht euch ein Thema, einen Ort oder Menschen, zu denen ihr euch wirklich hingezogen fühlt und die ihr unbedingt näher kennenlernen möchtet. Das wird sich in euren Bildern widerspiegeln. Lernt außerdem die Kunst der Fotobearbeitung, die nicht leicht zu meistern ist. Oder sucht euch einen guten Bearbeiter. Er kann wirklich helfen, eure Vision zu fokussieren und die Lücken in eurem Werk zu finden. Und das Wichtigste: Geht raus und fotografiert!

Der zweifache Pulitzer-Preisträger Michael Robinson Chávez wurde von der Fotografie verführt, nachdem er sich für eine Reise nach Peru eine Kamera ausgeliehen hatte. Der gebürtige Kalifornier, der zur Hälfte Peruaner ist, arbeitete bereits für die Washington Post, Associated Press, den Boston Globe und die Los Angeles Times. Er hat aus 75 Ländern berichtet, beispielsweise über die russische Invasion in der Ukraine, den Zusammenbruch Venezuelas, die ägyptische Revolution, den Goldabbau in Peru und den Hisbollah–Israel-Krieg 2006. Er ist dreimaliger Gewinner des Robert F. Kennedy Award for Photojournalism und wurde 2020 von Pictures of the Year International und 2023 von P×3 Photographie Paris jeweils zum Fotografen des Jahres ernannt. Er ist iWitness Fellow und unterrichtet für die Leica Akademien und Foundry Photojournalism Workshops. Seine Arbeiten wurden weltweit ausgestellt. Weitere Informationen über seine Fotografie finden Sie auf seiner Webseite und seinem Instagram-Kanal.

Leica M

The Leica. Yesterday. Today. Tomorrow.