Die Filme des britischen Kultregisseurs Alfred Hitchcock fesselten eine ganze Generation. Die Produktionen gelten bereits als Klassiker der Filmgeschichte und zeigen meist weibliche Opferfiguren, die von den Handlungen der männlichen Protagonisten verängstigt und schockiert sind. Der französische Fotograf Sacha Goldberger wuchs in einem Haushalt starker Frauen auf und stellte sich eines Tages die Frage: „Was, wenn Hitchcock Feminist gewesen wäre?“. Die Antwort auf diese Frage visualisierte er mit aufwendigen Filmsets und durch die Umkehrung der Rollen. Doch anstatt einer Serie über Feminismus entstand eine Serie über Beziehungen. Er erzählt, wie er auf die Idee zu seinem Projekt kam, auf welche Weise er von seiner Mutter und Großmutter beeinflusst wurde und über die Realisierung seiner Serie The Lady Does not Vanish.

Wie kamen Sie auf die Idee zu Ihrer ganz eigenen Neuinterpretation von Hitchcocks Werk?
Ich bin der Sohn und Enkel von Feministinnen. Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Männer und Frauen unterschiedlich, aber gleich sind. Es schien mir wichtig, dieses Thema in einer meiner Serien zu behandeln. The Lady Does not Vanish ist keine feministische Serie, sondern sie hinterfragt unsere Beziehung zum anderen Geschlecht. Jedes Bild lädt dazu ein, zu einer Situation Stellung zu beziehen, die im letzten Jahrhundert normal erschien. Hitchcocks Filme offenbaren die Mentalität in unserer Gesellschaft; es war interessant, den umgekehrten Weg einzuschlagen. Durch die Umkehrung bestimmter Rollen entsteht ein völlig anderer Blickwinkel. Einige Fotos sind absurd, andere offensichtlich … alle stellen Fragen. Wo fängt Gleichheit an und wo hört sie auf? Was bringen uns unsere Unterschiede? Das sind die Fragen, die ich in dieser Serie zu stellen versuchte.

Wie haben Sie die Idee für Ihre Serie The Lady Does not Vanish umgesetzt?
Ich denke, es war mein Foto Invasion Day Five, Only One Can Remain, aus der Serie Extra Not So Terrestre, das mich dazu brachte, eine Serie über Hitchcock zu machen. Dieses Foto könnte eine futuristische Version von The Birds sein. Im Gegensatz zu meiner übrigen Arbeit hat Extra Not So Terrestre mein Interesse für das bewegte Bild geweckt.

Wie haben Sie die Location für die Außenaufnahmen gefunden und wie haben Sie sich im Voraus darauf vorbereitet?
Im Rahmen einer Künstlerresidenz ging ich auf die Insel Batz und hatte sofort den Eindruck, inmitten zahlreicher Filmsets von Hitchcock-Filmen zu sein. Darauf folgte die Idee; ich wollte mich mit der Gleichheit zwischen Männern und Frauen beschäftigen. Das ist ein wichtiges Thema. So habe ich mir 53 von 56 Hitchcock-Filmen erneut angesehen. Nach zwei Jahren der Vorbereitung begann ich mit dem Shooting für The Lady Does not Vanish.

Wo haben Sie die Serie fotografiert?
12 Sets entstanden in einem Studio, acht in Innenräumen, die den Filmen, die wir neu interpretieren wollten, bereits ähnelten. Um ganz nah an die Originalfilme zu kommen, mussten wir diese entsprechend dekorieren. Für die Außenaufnahmen fotografierten wir zwanzig natürliche Sets, im Wesentlichen auf der Insel Batz.

Da Sie sich auf Hitchcocks Filmkulissen beziehen, wirken Ihre Bilder sehr filmisch. Wie gelingt es Ihnen, dem Original so nahe zu kommen?
Nichts wird dem Zufall überlassen: weder die Dekoration, der Stil der Epoche, die Accessoires, die Frisuren, das Make-up, noch natürlich die Schauspieler, die wir für jedes Bild ausgewählt haben. Die schauspielerische Leistung ist von grundlegender Bedeutung. Wir sind sogar so weit gegangen, dass wir Vögel für die Innenszenen des Films The Birds gekauft haben. Für North by Northwest bauten wir ein Flugzeug. Der Teufel steckt im Detail. Diese Serie ist teuflisch präzise.

Was ist Ihre ganz eigene visuelle Herangehensweise an das Thema Hitchcock?
Dieses Projekt war eine technische Meisterleistung, bei der ich versucht habe, den Bildern aus Alfreds Filmen so nahe wie möglich zu kommen. Ich wollte keine persönliche Identität schaffen, wie ich es zum Beispiel bei den Serien Animan, C’est bientôt hier und Extra Not So Terrestre getan habe. Das Interessante an The Lady Does Not Vanish ist, dass die finalen Bilder am Ende Vorrang vor dem Konzept hatten. Sie entwickelten ein Eigenleben jenseits der Idee. Einige von ihnen sind berührend, andere sind beunruhigend oder absurd. Sie alle rufen etwas hervor. Ich hoffe, dass sie auch dazu anregen, sich die Filme von Alfred Hitchcock anzusehen oder erneut anzusehen.

Bitte verraten Sie uns, welche Leica-Ausrüstung Sie verwendet haben, um die Serie zu fotografieren.
Ich habe verschiedene Kameras mit unterschiedlichen Objektiven verwendet, je nachdem, welches Ergebnis ich erreichen wollte, um dem Geist der neu interpretierten Filme möglichst nahe zu kommen. Ich verwende oft alte, gebrauchte Leica-Objektive, die ich im Leica Store Boulevard Beaumarchais gekauft habe und die es mir ermöglichten, für bestimmte Bilder einen gewissen Retro-Look zu erzielen. Alte Objektive wie das Summicron-M 50mm f/2 oder das Summaron-M 35mm f/2.8 funktionieren sehr gut mit der M11, die für bestimmte Aufgaben etwas zu heikel ist. Umgekehrt verwende ich neuere Objektive für meine alte M6, wenn ich ein sehr scharfes Bild haben möchte. Bestimmte Szenen fotografierte ich digital, andere auf Film. Die Wahl des Films war von größter Bedeutung, denn er musste sich dem Korn und der Farbe der original Hitchcock-Bilder anpassen. Für Schwarz-Weiß verwendeten wir grundsätzlich Tri-X 400, für Farbe Ektachrome 100; das sind die Filme, die den gewünschten Ergebnissen am nächsten kamen.

Sie sind ganz offensichtlich ein großer Leica-Fan.
Ich glaube, ich war schon immer ein Leica-Botschafter. Nach dem Krieg bauten meine Großmutter und mein Großvater die Textilfabrik der Familie in Budapest wieder auf. Die Stadt wurde von den Russen kontrolliert, die sie befreit hatten. Eines Morgens waren alle Maschinen aus der Fabrik verschwunden. Daraufhin lud mein Großvater einige der russischen Beamten zum Essen ein. Als der Abend sich dem Ende neigte und er einen der einflussreichen Offiziere ausgemacht hatte, nahm er diesen mit in sein Büro und schenkte ihm eine Leica. Am folgenden Tag standen alle Maschinen wieder einsatzbereit in der Fabrik. Meine Großmutter sagte immer, dass die Leica das Familienunternehmen und Tausende von Arbeitsplätzen gerettet hat. Offiziell bin ich seit 2021 Leica-Botschafter. Meine Großeltern wären sehr stolz gewesen.

Geboren 1968 in Paris, arbeitete Sacha Goldberger mehr als zwölf Jahre als künstlerischer Leiter in der Werbung. 2008 nahm er sein Fotografiestudium bei Gobelins Paris, l’école de la création visuelle, wieder auf. Seine Werke wurden auf Photo London und Paris Photo sowie in Galerien in und außerhalb Frankreichs ausgestellt. Seine Arbeiten wurden u.a. in Polka Magazin, The Sunday Times Magazin, Le Monde und Le Figaro sowie in vielen weiteren nationalen und internationalen Magazinen veröffentlicht. Erfahren Sie mehr über seine Fotografie auf seiner Webseite und seinem Instagram-Kanal.

Leica M

The Leica. Yesterday. Today. Tomorrow.