Venedig ist eine alte Stadt – im wahrsten Sinne des Wortes; eines der Defizite der Stadt ist ihre unnachgiebige Einstellung zu den Geschlechterrollen. Frauen haben zum Beispiel kaum eine Chance, Gondoliere zu werden. Die Fotografin Clara Vannucci erzählt die Geschichte von Edoardo, der sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hat, um ein Mann zu werden, damit er sich seinen Traum erfüllen kann, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Gondoliere zu werden.

Wie haben Sie Edoardo kennengelernt, und was hat Sie dazu bewogen, seine Geschichte zu erzählen?
Eine gute Freundin von mir, Eleonora Magnelli, erzählte mir eines Abends von Edoardo. Sie ist seine Logopädin und hilft ihm dabei, seine Stimme von der weiblichen in die männliche Form zu bringen. Ich hatte das Gefühl, dass diese Geschichte erzählt werden musste und wollte Edoardo sofort kennenlernen. Als ich ihn traf, wurde mir klar, dass es so viel zu erzählen gibt und dass die Geschichte größer werden könnte. Ich sprach darüber mit dem Journalisten der New York Times, Guy Trebay, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeite, und er war sofort begeistert von dem Thema. Also beschlossen wir, Seite an Seite daran zu arbeiten. Ich hätte mir ehrlich gesagt niemand Besseren vorstellen können, um eine solche Geschichte zu schreiben, die mir persönlich sehr am Herzen liegt.

Wie hat Edoardo reagiert, als Sie zum ersten Mal mit ihm über Ihre Idee, ihn zu porträtieren, gesprochen haben?
Nachdem Eleonora Edoardo von meiner Idee erzählt hatte, führten wir ein Telefonat. Er freute sich sehr darüber, an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten, und lud mich ein, ihn in Venedig zu besuchen. Ein paar Tage nach unserem Gespräch war ich bei ihm zu Hause. Er gewährte mir vollen Zugang zu seinem Leben, und er erlaubte mir, in seine Welt einzutauchen und sie zu fotografieren. Plötzlich wusste ich, dass ich einen Freund gefunden hatte, und dafür werde ich Edoardo und seiner Freundin Claudia ewig dankbar sein.

Wie lange haben Sie Edoardo fotografisch begleitet, und worauf haben Sie sich vor allem konzentriert?
Ich habe diese Geschichte im Mai 2021 begonnen, und ich würde sagen, dass sie immer noch andauert. Ich habe Edoardo in vielen verschiedenen Situationen und Städten in ganz Italien gesehen. Von Venedig über Florenz bis nach Bologna, um seine Mastektomie, seine Reise und seine Herausforderungen zu dokumentieren. Visuell habe ich mich hauptsächlich auf ihn konzentriert – seinen Körper, seine Veränderungen. Ganz allgemein habe ich auch sein Leben betrachtet, die Orte, an denen er lebt, die Menschen, die er liebt.

Hatten Sie einen bestimmten fotografischen Ansatz?
Mein Ansatz ist normalerweise ziemlich natürlich. Vor allem zu Beginn, als ich ihn zum ersten Mal traf, fühlte ich mich eher wie eine Beobachterin. Mit der Zeit macht es mir auch Spaß, mit neuen Beleuchtungsarten zu experimentieren (z. B. rotes Licht und Blitzlicht), auch um mich persönlich in der Porträtfotografie weiterzuentwickeln. Edoardo und Claudia sind fantastische Fotomotive, und sie waren vor dem Objektiv sehr natürlich. Ich brauchte sie nicht zu dirigieren, sodass ich mich mehr an den Reportagestil halten konnte.

Sie haben mit der Q und dem SL-System gearbeitet. Inwiefern haben diese Kameras dazu beigetragen, Ihre Ziele zu erreichen?
Ja, ich habe den größten Teil des Projekts mit der Q fotografiert, die sich gut durch die Stadt tragen ließ, ohne zu aufdringlich zu sein. Es ist eine sehr leichte Kamera, die von den Leuten nicht allzu sehr wahrgenommen wird: Deshalb glaube ich, dass sie sich vor ihr so wohlfühlen. Auch bei sehr schlechten Lichtverhältnissen war die Q einfach perfekt. Die SL hingegen war in einigen speziellen Situationen sehr hilfreich: zum Beispiel in der Notaufnahme. Als Edoardo die Mastektomie hatte, konnte ich damit Details einfangen, ohne zu nahe herangehen zu müssen. In manchen Situationen war die SL deshalb wirklich wichtig. Auch wenn sie schwerer zu tragen ist, ist sie schnell und sehr zuverlässig.

Born Twiceist eine sehr berührende Geschichte mit einer wichtigen Botschaft. Würden Sie sagen, dass die Fotografie im Allgemeinen politisch ist?
Es ist wichtig, echte Geschichten wie diese zu erzählen, über echte Menschen, ohne Fiktion oder Kompromisse. Wir als Fotojournalisten haben diese Macht und Ehre, und es wäre wirklich schade, sie zu verschwenden. Born Twice ist eine Geschichte über Liebe und Widerstandskraft in einem Land, das leider immer noch in der Vergangenheit verankert ist, wenn es um Diskriminierung und Transgender-Rechte geht; besonders jetzt, wo die neue rechte Regierung an der Macht ist. Es ist eine Geschichte, wie Edoardo selbst erklärt, in der er gezeigt wird, wie schwer es sein kann, mit sich allein zu sein, sich selbst zu betrachten, sich in der Stille zu spiegeln und schließlich auf sich selbst zu hören; und dann einen Dialog mit Eltern, Freunden und Partnern zu führen.

Welche Rolle spielt dieses Projekt für Sie persönlich?
Ich bin selbst Mutter eines kleinen Mädchens, und es hat mich sehr beeindruckt, Edoardo und seiner Mutter zuzuhören, wie sie über ihre Erfahrungen und ihre Geschichte sprechen. Es ist ein Projekt, das mich sehr berührt: Es handelt von Herausforderungen und Veränderungen, vom Mutter- und Kindsein, vom Umgang mit einer Gesellschaft, die unsere Bedürfnisse nicht immer respektiert. Ich glaube, es betrifft uns alle auf die eine oder andere Weise.

Clara Vannucci (geboren 1985) ist eine italienische Dokumentarfotografin. Sie arbeitet freiberuflich für verschiedene italienische und internationale Zeitschriften und Zeitungen, wo sie hauptsächlich Mode-, Redaktions- und Reiseaufträge abdeckt. Sie unterrichtete die Insassen eines Hochsicherheitsgefängnisses in Fotografie und ist heute Professorin für Fotografie am IED (European Design Institute). Zudem schreibt sie für die New York Times, und ihre Arbeiten wurden u. a. im Time Magazine, im New York Magazine, in der Vogue und in der Vanity Fair veröffentlicht. Mehr über ihre Fotografie finden Sie auf ihrer Webseite und ihrem Instagram-Kanal.

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