Ob Wissenschaftler, Pilotinnen, Abenteurer, Elektrikerinnen oder Köche, auf ihrer Reise zu den Polarkreisen geben sie sich furchtlos der Kraft, Unendlichkeit und Schönheit der Natur hin. Der französische Fotograf Jean-Gabriel Leynaud lernte auf seinen Expeditionen die Menschen am Pol kennen und hielt sie in seinen faszinierenden Serien fest.

Die Menschen am Pol – wer sind sie und mit welcher Absicht haben Sie sie begleitet?
Die Menschen am Pol sind all diese ungewöhnlichen Geschöpfe, die um die beiden geografischen Pole kreisen, Orte, die definitiv nicht für Menschen gemacht sind, und doch so faszinierend und attraktiv. Egal, ob es sich um Pilotinnen, Abenteurer, Wissenschaftlerinnen oder Logistiker handelt, die Zerbrechlichkeit und Widersprüchlichkeit des Aufenthalts dieser Sterblichen außerhalb ihrer sicheren, komfortablen und vernetzten Welt berührt mich zutiefst. Diese Frauen und Männer haben sich einer Natur hingegeben, deren Kraft und Schönheit überwältigend sein können.

Was wollen Sie mit Ihren Bildern zeigen?
Ich möchte, dass diese Bilder sowohl die Schönheit als auch die Widersprüchlichkeit der menschlichen Präsenz so weit oben im Norden oder im Süden zeigen. Keine Zivilisationen und nur sehr wenige Tiere waren vor den Wissenschaftlern und Abenteurern des 20. Jahrhunderts an diesen Orten. Egal, ob sie versuchten, ein Boot im Packeis zu segeln, im relativen Komfort einer wissenschaftlichen Station zu arbeiten oder allein einen Schlitten zu ziehen, sie wurden von einer Leidenschaft angetrieben, die eine Welt eröffnet hat, die größer war als sie, und sie mussten sich darauf einlassen.

Welchen Herausforderungen sind Sie auf Ihren Reisen begegnet?
Ich habe diese Bilder auf mehr als fünf Reisen gemacht, aber ich hatte das Glück, über zehn Polarexpeditionen unternehmen zu können. Insgesamt habe ich ein Jahr meines Lebens an den Polen verbracht. Ich musste mich hauptsächlich um mich selbst kümmern. Eine Reise zu einem der Pole ist immer ein Abenteuer. Mehrere Wochen darauf zu warten, dass ein Flugzeug in die richtige Richtung, hin oder zurück, fliegt, ist ganz normal. Wenn man sich auf eine solche Reise begibt, lernt man, dass die Zeit einfach anders läuft. Mehrmals musste ich sogar die ganze Reise aufgeben, nachdem ich zwei Wochen am Rande der Welt gewartet hatte. Sobald man den Pol erreicht hat, ist da natürlich die Kälte, aber wenn man die richtige Kleidung trägt und geduldig genug ist, gewöhnt man sich daran. Man muss einfach ein Polartier werden.

Wie hat sich die Kamera bei dieser außergewöhnlichen Kälte geschlagen?
Sobald man die Kamera herausnimmt, muss sie funktionieren … Das ist relativ einfach, wenn man sich nahe einer wissenschaftlichen Station mit Strom und warmen Räumen befindet, aber manchmal eine Herausforderung, wenn man auf dem Eis ist. Für meine Leica M9 musste ich eine externe Stromversorgungslösung bauen, bei der M (Typ 240) und der M10-R halte ich die Akkus Tag und Nacht nah am Körper, damit sie warm bleiben. Zu fotografieren war am kompliziertesten, wenn ich auf Skiern unterwegs war. Ich habe den Nordpol zweimal aus Richtung Sibirien erreicht – bei einer solchen Expedition muss man in Bewegung bleiben, und beim Fotografieren kommt man nicht gerade schnell voran.

Welche Bedeutung hat Schnee für Sie – auch als fotografisches Element und Stilmittel?
Ich schätze besonders die Momente, in denen Menschen im Weißen verschwinden und wenn sie Dinge tun, die für ihr Leben wesentlich sind – aber bedeutungslos angesichts der sie umgebenden Unermesslichkeit. Ich habe versucht, diese Momente in Schwarzweiß und, sozusagen, in Farbe und Weiß festzuhalten. Weiß ist immer da, aber es ist nie wirklich weiß. Da ist immer etwas anderes drin. Das Eis ist nur ein Spiegel, der den Himmel, die Wolken und vielleicht auch jemandes Gedanken reflektiert. Ich habe versucht, die Finger von der gelben Sonne und dem blauen Himmel zu lassen, weil ich finde, dass sie die Pole visuell nicht richtig beschreiben. Ein Tag mit blauem Himmel auf einem Bild sieht wärmer aus, aber tatsächlich ist es kälter, wenn der Himmel klar ist. Der Postkarteneffekt kann die Realität verbergen und Betrachtende daran hindern, das zu sehen, was wirklich da ist.

Welche Veränderungen sind in Zeiten der globalen Erwärmung an den Polarkreisen wahrnehmbar?
Die Pole schmelzen, man sieht es, wenn man dort draußen steht. Es ist nicht mehr nur eine globale Erwärmung, mit der wir konfrontiert sind, es ist ein globales Schmelzen. Als wir 2006 versuchten, das Polarmeer zu überqueren, hatten wir sogar Regen in der Nähe des Pols. Meine sehr kurze Erfahrung mit diesen Orten – seit meiner ersten Reise zum Südpol sind 23 Jahre vergangen – ist lang genug, um einen Unterschied zu spüren. Das ist absolut beängstigend.

Was haben Sie dort über das Leben gelernt? Wie verändert sich die eigene Sicht auf die Dinge?
Die Pole haben mir viel beigebracht. Es ist irgendwie tröstlich, 99 Tage lang mit meinem Partner allein auf dem Eis gewesen zu sein. Was auch immer passieren würde, wir wussten, dass wir eine Lösung finden mussten, und irgendwie haben wir das geschafft. Alle Menschen, die ich um beide Pole herum traf, hatten ihre menschlichen Grenzen und Schwächen akzeptiert. Ich fand das wunderbar in Zeiten, in denen alles kontrolliert, sicher und präzise sein muss.

Was war Ihr beeindruckendstes Erlebnis am Pol?
Das waren sicherlich die langen Skiüberquerungen, die ich gemacht habe. Aber jeder Tag dort draußen hat etwas Besonderes, in einer Polarstation zu sein ist auch sehr stark. So weit weg von allem kommen sich die Menschen dort näher. Sie entwickeln starke und tiefe Beziehungen … und zufällig trifft man von einem Jahr und einem Pol zum anderen immer denselben Wissenschaftler, Piloten, Koch oder Arzt wieder. Diese Orte erzeugen eine Art Sucht, denke ich.

Der französische Fotograf und Filmemacher Jean-Gabriel Leynaud hat für Kino, Netflix, National Geographic, Discovery Channel und andere gefilmt, während seine Fotografien ebenfalls in National Geographic, aber auch in Paris Match, Elle, Billed Bladet und in mehreren Büchern erschienen sind. Seine starke Beziehung zu den Polarregionen entstand durch das Filmen und Fotografieren und hat ihn auch dazu gebracht, mehrere Skiexpeditionen zu durchzuführen. Auf seiner Website erfahren Sie mehr über die Arbeit von Jean-Gabriel Leynaud.

Leica M

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