Die Leica Galeria Mexiko-Stadt eröffnet mit einem Paukenschlag: Die Fotografien von Yael Martínez zeigen surreale Welten zwischen Traum und Realität, die den Assoziationen bei den Betrachtenden freien Lauf lassen. Im Interview erzählt der mexikanische Fotograf von seinen Motivationen und den Entstehungsweisen seiner Werke.
Was war die konkrete Motivation hinter den Bildern, die Sie in Mexiko ausstellen werden? Gibt es ein übergreifendes Thema, das Ihren Werken zugrunde liegt, oder bestimmte Konzepte, die dahinter stehen?
Schon zeitig war einer meiner ersten Ansätze, die Fotografie als Mittel zu nutzen, um die Menschen, die ich liebe, und die Menschen, mit denen ich eine tiefe Verbundenheit teile, festzuhalten. Die thematische Linie, die die Bilder bestimmt, ist also eine Art der liebevollen Fotografie. Ich möchte darstellen, wie auf diesem Weg empathische Verbindungen in Bezug auf menschliche Beziehungen hergestellt werden können.
Wie würden Sie Ihren Fotostil beschreiben; was sind die größten Einflüsse auf Ihre Bildsprache?
Ich habe mich immer als Dokumentarfotografen gesehen. Ich finde es wichtig, dass meine Arbeit mit der Realität verbunden ist und von sozialen, historischen und politischen Prozessen spricht. Auch wenn meine Erkundungen keinen klassischen Charakter haben, glaube ich, dass sie weiterhin dokumentarische Entdeckungen sind, bei denen das Herz und die Struktur des Bildes eine tiefe Verbindung zur Realität haben. Ich bewundere unter anderem die Arbeiten von Josef Koudelka, Graciela Iturbide, Susan Meiselas und Antoine d’Agatha sehr und interessiere mich auch für zahlreiche malerische und grafische Arbeiten.
Unter welchen Bedingungen sind Ihre Bilder entstanden?
Viele der gezeigten Bilder sind von meinen Töchtern und meiner Frau. Wie ich bereits erwähnt habe, glaube ich, dass die Fotografie eine Verbindung ist, bei der wir gemeinsam Bilder erzeugen können, die als Erinnerung, als eine Art Spiel, oder als Lernmöglichkeit dienen, um Erfahrungen in den Momenten zu fördern, die wir gemeinsam gestalten. Seit einigen Jahren besteht mein Interesse unter anderem darin, Bilder zu schaffen, die unsere Vorstellung von der Realität erweitern – dann vermische ich Bildwelten, die aus Erinnerungen oder Träumen entstehen.
Wie gelingt es Ihnen, Ihre Gefühle und Gedanken in solch ästhetisch ansprechenden Bildern festzuhalten? Haben Sie einen bestimmten Ansatz?
Ich betrachte die Fotografie als einen kollaborativen Prozess, und um diesen Prozess in Gang zu setzen, muss man das Einfühlungsvermögen und die Nähe zu den Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, ausbauen. Wir müssen lernen, zu beobachten und zuzuhören. Indem ich diese Momente verinnerliche, baue ich eine Beziehung zu den Menschen auf, und das ist dann der Moment, in dem ich das Bild mache. In vielerlei Hinsicht beginnt mein Prozess, ohne dass ich eine Kamera zur Hand habe; das Bild entsteht oft erst am Ende des Prozesses, wenn ich intuitiv weiß, dass es an der Zeit ist, die Kamera zu zücken, um den Moment zu dokumentieren. In einigen Fällen habe ich sehr heikle Momente geteilt, und ich ziehe es vor, die Kamera nicht hervorzuholen, sondern einfach weiterzuleben und aus der Erfahrung zu lernen. Ich denke zudem, es ist sehr wichtig, eine liebevolle Beziehung aufzubauen. Ich versuche auch immer, die Erlaubnis der Person oder der Personen einzuholen, die ich gerade fotografiere. Es ist auch schon vorgekommen, dass die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, mich gebeten haben, sensible Fotos nicht zu veröffentlichen, nachdem ich sie ihnen gezeigt hatte.
Welche Rolle spielen natürliches und künstliches Licht in Ihrer Arbeit, wenn es darum geht, bestimmte Stimmungen zu erzeugen?
Ich war schon immer daran interessiert, in meinen Bildern bestimmte Stimmungen zu erzeugen. Das tue ich, indem ich immer zu bestimmten Zeiten arbeite, wenn ich weiß, wie sich das Licht verhält; manchmal verwende ich jedoch auch einen Blitz oder Dauerlicht, um die gewünschte Stimmung zu erreichen.
Wenn man bedenkt, dass einige Ihrer Bilder wie traumartige Collagen aussehen, welche Rolle spielt dann die Nachbearbeitung in Ihrer Arbeit?
Seit 2016 ist ein Teil meines Prozesses das Experimentieren mit der Nachbearbeitung. Diese Arbeiten sind mit den Erfahrungen verbunden, die ich gemacht habe, und irgendwie verwandeln sich diese Erfahrungen in Bilder, die einzigartig und nicht wiederholbar sind. Diese Eingriffe werden zu Ritualen, und in diesem Sinne arbeite ich oft an Abzügen, wodurch originelle Bilder entstehen. Zur Bearbeitung nutze ich Werkzeuge, die man für die Herstellung von Schmuck oder auch ganz klassisch für grafische Prozesse verwendet. Ich versuche, die Lebenserfahrungen, die ich gemacht habe, in meine Bildsprache zu integrieren. Diese Erfahrungen sollen sicherstellen, dass das Bild aus verschiedenen Ebenen und Perspektiven gelesen wird.
Was man oft in den sozialen Netzwerken, auf den Kanälen von Magnum oder in der Galerie, die mich vertritt, sieht, ist eine Reproduktion meines Eingriffs in ein Foto. Aber ich behalte immer das Original und konnte diese einzigartigen Werke in Museumsausstellungen zeigen.
Können Sie uns etwas über die Wahl der Leica Q2 erzählen und wie sie Ihre Bildgestaltung beeinflusst hat?
Ich mag die Vielseitigkeit, die mir das Q-System gibt. Sie ist eine kompakte, sehr robuste Kamera, mit der ich auch an schwer zugänglichen Orten arbeiten kann, und sie hat ein Objektiv, das lichtstark genug ist, um mit jeder Szene fertig zu werden. Die Q2 ist ideal für meinen Workflow und für die Brennweite, mit der ich zu arbeiten pflege.
Sie können auf eine bemerkenswerte berufliche Laufbahn zurückblicken. Wie hat sich Ihr Weg als Fotograf entwickelt, und welche Bedeutung hat die Ausstellung in der neuen Leica Galerie Mexiko-Stadt für Sie?
Nachdem ich über ein Jahrzehnt damit verbracht habe, meine Familie und die Familien von Verschwundenen zu fotografieren, versuche ich nun, einen Weg zu finden, der mich dazu bringt, eine historische Erinnerung an mein Leben zu schaffen. Ein Zeugnis, durch das ich von all den Schichten der Realität sprechen kann, die mein Land ausmachen. Ich definiere meine Arbeit als einen Essay über die Widerstandsfähigkeit durch die Bilder derer, die irgendwann in ihrem Leben von Gewalt betroffen waren. Diese Menschen und Gemeinschaften, die in einem Gebiet, einem Raum oder einem Körper leben und Widerstand leisten, der durch die Gewalt, die unser Land plagt, verwundbar geworden ist. Ich finde es spannend, über Mexiko und Lateinamerika als symbolischen Raum zu sprechen; als Gebiete, in denen Gewalt in den physischen und geistigen Raum der Menschen eindringt, die dort leben.
Welche Bedeutung hat die Fotografie für Sie im Allgemeinen?
Die Fotografie ist für mich eine Lebenserfahrung. Sie hat mir eine große Sensibilität für Geschichte gegeben, was mir sehr dabei hilft, die Gegenwart zu sehen und zu fotografieren; und ich hoffe, dass sie dazu beiträgt, zu definieren, wie die Gesellschaft die Zukunft sehen wird, um eine Basis zu schaffen, die allen Widrigkeiten standhält. Aus meiner Sicht ist die Fotografie ein Mittel, um Einfluss auf die Gesellschaft und die Gemeinschaft zu nehmen. Heute muss ein Fotograf mehr denn je Räume der Reflexion und Analyse für aufkommende Themen schaffen. Es ist unerlässlich, die Dokumentarfotografie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, wobei die Hauptakteure die Menschen sind, die ihre Herzen und die Türen ihrer Häuser öffnen, um eine Erinnerung an die sozialen Prozesse zu schaffen, die sie durchleben.
Ich verstehe die Fotografie und die Kunst somit als ein Mittel der sozialen Transformation. Unsere Tage werden nicht erst gemessen, wenn unsere Augen erloschen sind; sie werden gemessen an der Anzahl der Wurzeln, die wir in den Boden pflanzen, und an den Stimmen, die mit unseren Kämpfen, die mit unseren Ängsten und mit unseren Träumen brennen.
Yael Martínez Velázquez wurde 1984 im mexikanischen Bundesstaat Guerrero geboren. Sein Werk befasst sich mit den zerrissenen Gemeinschaften in seiner Heimat. Oft arbeitet er symbolisch, um ein Gefühl der Leere, der Abwesenheit und des Schmerzes der vom organisierten Verbrechen betroffenen Menschen in der Region zu vermitteln. Er ist Kandidat der Agentur Magnum Photos und Mitglied des Sistema Nacional de Creadores de Arte in Mexiko. 2019 erhielt er den Eugene Smith Award, gewann den 2. Preis des World-Press-Photo-Wettbewerbs 2019 in der Kategorie Langzeitprojekte und ist Stipendiat des Photography and Social Justice Program der Magnum Foundation. Seine Arbeiten werden weltweit in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt und u. a. in National Geographic, im Wall Street Journal, in Time, Vogue Italy oder Aperture veröffentlicht. Mehr über seine Arbeiten finden Sie auf seiner Webseite und seinem Instagram-Kanal.
Die Ausstellung findet vom 17. November 2023 bis zum 22. Januar 2024 in der Leica Galerie Mexiko-Stadt, Avenida Presidente Masaryk 422; Polanco, statt.
Es ist nicht erlaubt, die ausgestellten Bilder in einem anderen Kontext als dem der Ausstellung von Yael Martínez in der Leica Galerie Mexiko-Stadt zu benutzen.
Kommentare (0)