Mit seiner Serie Traces erforscht der Fotograf den hybriden Raum zwischen Natur und Gesellschaft sowie zwischen Natur und Erinnerung. Seine Fotografien blicken sowohl auf die sichtbare erhabene und manchmal eindringliche Landschaft als auch auf Erinnerungen, die die eigenartigen, oft krummen Formen wecken und wieder aufleben lassen. Die Serie ist eine Einladung zu einer Reise zu den Walnusswäldern Kirgisistans, den verschlungenen Baumwurzeln von Angkor Wat, den Kautschukbäumen Mexikos, den uralten Olivenbäumen an der Mittelmeerküste und in die Heimat einiger der ältesten Bäume in England und Wales. Eine Auswahl der Motive der Traces, die kürzlich in dem gleichnamigen Bildband bei Dewi Lewis erschienen sind, wird in der Leica Galerie Wien präsentiert. Wir sprachen mit dem Fotografen über sein Projekt.

Was bedeutet für Sie die Verbindung von Landschaft und Erinnerung?
Es gibt viele Möglichkeiten, als Künstler oder Fotograf auf die Landschaft zu reagieren. Mein Ansatz ist seit mindestens 15 Jahren, die Landschaft durch eine Art „Brille der Erinnerung“ zu sehen. Damit meine ich, auf erkennbare anthropomorphe oder zoomorphe Formen in der Landschaft zu reagieren, auf den kulturellen Kontext der Landschaft – wie Bäume, über die William Wordsworth Gedichte geschrieben hat – zu antworten oder auf Elemente in einer Landschaft zu reagieren, die die Erinnerung wecken. Dieser Ansatz ist nicht neu. Der Maler Giorgio de Chirico verfolgte ihn schon oder der Fotograf Josef Sudek, als er Bäume in den Karpaten fotografierte.

Welche Bedeutung haben Bäume für Sie?
Ich bin an vielen Orten aufgewachsen. Bäume und die manchmal stillen Orte, an denen sie wachsen, waren schon immer eine Art Therapie. Ich habe eine Leidenschaft für Bäume. Ich bin immer traurig, wenn sie abgeholzt werden. Bäume haben mich in vielerlei Hinsicht inspiriert und mir Freude bereitet.

Bäume sind mehr als nur eine Ressource – wie philosophisch oder ökologisch sehen Sie die Serie?
Ich glaube nicht, dass wir den Homo sapiens sinnvoll vom Rest der Natur trennen können: Wir sind einfach eine ziemlich dominante Kraft auf dem Planeten geworden. Daher ist unsere Beziehung zu und unsere Verantwortung für unsere Umwelt von entscheidender Bedeutung, ebenso wie die Art und Weise, wie wir auf künftige Generationen Rücksicht nehmen.

Wann haben Sie angefangen, Bäume zu fotografieren, und wann sind die Aufnahmen für die neue Serie entstanden?
Ich bin mir nicht sicher, wann ich angefangen habe, ernsthaft Bäume zu fotografieren, wahrscheinlich während meines Studiums in den 1970er-Jahren. 90 Prozent der Bilder im Buch und in der Ausstellung wurden zwischen März 2022 und Mai 2023 aufgenommen. Ich habe mich sehr früh auf dieses Projekt konzentriert, nachdem ich im März 2022 die ersten Bilder von alten Olivenbäumen auf Malta fotografiert hatte.

Warum trägt die Serie den Titel Traces (Spuren)?
Der Titel Traces basiert auf mehreren Gedanken, die ich während der Arbeit am Buch hatte. Zunächst war es, glaube ich, John Berger, der schrieb, dass eine Fotografie eine Spur sei. Seine Wahl des Begriffs „Spur“ spiegelt zahlreiche Überlegungen zur Indexikalität der Fotografie wider – ihrer physischen Beziehung zu ihrem Bezugspunkt: wie ein Fußabdruck im Sand. Zweitens beziehe ich mich im Buch auf Spuren der persönlichen Biografie und Erinnerung in meiner Reaktion auf Bäume. Drittens erforsche ich die Spuren antiker und noch existierender Wege, wie der Via Augusta oder der Seidenstraße, wo Bäume vor Tausenden von Jahren Wurzeln schlugen und wo ihre Zukunft ungewiss ist.

Gibt es Bäume, zu denen Sie eine besondere Beziehung haben und die Sie über einen längeren Zeitraum hinweg fotografiert haben?
Ja. Der Weidenbaum, den ich am Fuße meines Gartens am Holsvatnet-See in der Nähe von Molde in Norwegen über zwölf oder 13 Jahre lang gepflegt habe. Ich habe diesen Baum unter allen Bedingungen fotografiert: Schnee, Wind, Regen und Sommersonne; und auf jedem Format von 10×8 bis 35 mm. Auch bin ich innerhalb von zwei Jahren zweimal nach Spanien zurückgekehrt, um alte Olivenbäume zu fotografieren: in einem Fall, weil ich mit der Komposition unzufrieden war, in einem anderen, weil ich besseres Licht wollte.

Warum haben Sie sich für Schwarzweiß entschieden, und mit welchen Kameras haben Sie gearbeitet?
Mir ging es darum, die Formen der Bäume in der Landschaft herauszuarbeiten. Farbe wäre nicht hilfreich gewesen. Ich habe seit meiner ersten M3 in den 1970er-Jahren mit Leica Kameras gearbeitet. Während meiner gesamten Zeit bei National Geographic habe ich M6-Kameras eingesetzt. In diesem Buch habe ich fast ausschließlich mit meiner M7 und meiner MP fotografiert. Nur ein paar Bilder wurden mit einer alten Mamiya 6 mit Balgengerät oder anderen Kameras gemacht.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihren Natur- und Landschaftsaufnahmen und Ihrer fotojournalistischen Arbeit beschreiben?
Der größere Unterschied ist weniger das Thema: Menschen versus Landschaften, sondern vielmehr das Maß an Subjektivität, das ich in meine Arbeit einbringen konnte, als ich noch nicht durch Auftragsarbeiten gebunden war. Man könnte also sagen, dass das Verhältnis zwischen einer Arbeit, die vollständig von einem Autor stammt, und einer, an die bestimmte Erwartungen geknüpft sind, zum Beispiel im Unterschied zwischen meinen Auftragsarbeiten aus den 1990er-Jahren für National Geographic und den Büchern oder Artikeln, die ich in den 2000er-Jahren veröffentlicht habe, zu sehen ist: In beiden Perioden habe ich Landschaften und fotojournalistische Arbeiten produziert.

Neben Ihrer Arbeit als Fotograf haben Sie Geografie studiert und in diesem Fach promoviert. Was hat Sie an dieser Disziplin besonders interessiert?
Mir gefiel die Tiefe der Forschung – die Zeit und der Raum, um Ideen zu verdauen und zu denken. Das reizte mich.

Stuart Franklin wurde 1956 in London, England, geboren und lebt in Norwegen. In seiner Arbeit verbindet er einen direkten Dokumentarstil mit einer starken persönlichen Vision. Er hat einige der wichtigsten Medienereignisse des 21. Jahrhunderts fotografiert, viele ausgezeichnete persönliche Projekte produziert und zahlreiche Bücher veröffentlicht. 1989 entstanden seine viel beachteten Fotografien vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking, wo eine Demonstration für Freiheit in einem Massaker endete. Zwischen 1990 und 2008 fotografierte er etwa 20 Reportagen für das National Geographic Magazine. Während dieser Zeit beschloss er, einige der Themen, mit denen er sich auseinandersetzte, theoretisch besser zu verstehen und begann 1995 ein Geografiestudium, das er an der Universität Oxford mit einer Doktorarbeit abschloss. Im Jahr 2016 erhielt Franklin eine Professur für Dokumentarfotografie. Seit 1985 ist er Mitglied von Magnum Photos, seit 1989 Vollmitglied, und von 2006 bis 2009 war er der Präsident der Agentur.

Mehr über seine Arbeit auf der Website von Magnum Photos und seinem Instagram-Account.

Der Bildband Traces mit Essays von David Nash und Martin Barnes ist bei Dewi Lewis erschienen.

Die Ausstellung in der Leica Galerie Wien läuft noch bis zum 24.2.2024

Leica M

The Leica. Yesterday. Today. Tomorrow.